Die Heilige Barbara (Teil 1/3)

Fiel da wirklich einfach so Feuer vom Himmel oder war der reiche Kaufmann („reich“ gehört zu „Kaufmann“ wie „arm“ zu „Schlucker“) Dioskuros von Nikomedien auf der außerhalb der Stadt gelegenen Richtstätte in den Ionen-Strahl eines Alien-Raumschiffs geraten? Und war dies geschehen, noch bevor er seine eigene Tochter mit dem Schwert enthaupten konnte oder erst kurz danach? Die Quellen geben darüber keine Auskunft und außer Erich Anton Paul von Däniken will auch niemand ein Raumschiff gesehen haben.

Im Anfang der auf dem Schafott endenden Geschichte war nicht das oder ein Wort, sondern eine Art Fragenkatalog. Sind die Götter, da sie sich ja ziemlich menschlich benehmen, in Wahrheit Menschen gewesen? War Jupiter genauso jähzornig wie Du, Papa? Und hat er seine Frau auch ständig betrogen? Warum beten wir ihn dann eigentlich an? Wäre es nicht vernünftiger, sich nach einem anbetungswürdigeren Gott umzusehen? Hast Du schon einmal etwas von Jesus Christus gehört, Mama? Soll ich Dir einmal die Papyrusrolle geben, die ich neulich auf dem Marktplatz bekommen habe?

Die solches fragte, war Dioskuros‘ Tochter Barbara. Fremd war sie, wenn man so will, in ihr Elternhaus eingezogen, fremd zog sie am Ende wieder aus – unabhängig davon, ob sie noch rechtzeitig von den Aliens, den anderen Fremden, gerettet werden konnte oder nicht. Was vage dafür spricht, sind geleakte Dokumente des Pentagon, wonach ein in den 1950er Jahren geborgenes UFO den Schriftzug „Sancta Barbara“ tragen soll.

Wie dem auch sei: Da Barbara von ihren Eltern nur Zurechtweisungen, aber keine Antworten bekam, wandte sie sich, obwohl ihr Vater sie zur Bewahrung ihrer körperlichen und geistigen Unbedarftheit in einen Turm eingeschlossen hatte (die Psychotherapeutin weiß, was das bedeutet), mit ähnlichen Fragen an den in Alexandria lebenden ersten allgemein anerkannten christlichen Gelehrten Origenes, der prompt, also etwa ein Jahr später, einen Priester namens Valentinus zu ihr schickte, um sie von ihm in die Grundlagen des Christentums einführen und zu (nicht wirklich) guter Letzt taufen zu lassen.

Hätte Barbara es damit gut sein lassen, wäre es vielleicht doch nicht gekommen, wie es möglicherweise kommen musste.

(Fortsetzung folgt.)

Denn wir wissen nicht, was wir tun

Wie Christus kein Christ und Marx kein Marxist war, so hatte Ödipus keinen Ödipuskomplex. Wenn im Anfang das Wort war, dann war aber mit dem Anfang zugleich die noch namenlose Tat des Verbalisierens oder, wo weder Tat noch Wort war, das Chaos. Die aus dem Chaos geborene Tat des Ödipus, deren psychischen Hintergrund Sigmund Freud ein paar Generationen später einen Ödipuskomplex nannte, bestand aus zwei Komponenten: aus einem Totschlag und einem Beischlaf. Es liegt in der Natur der Sache, also des Menschen, dass der eine singulär blieb, während der andere notorisch wurde.

Beschlafen wurde von Ödipus seine Mutter Iokaste, totgeschlagen sein Vater Laios. Bekanntermaßen wusste Ödipus in beiden Fällen nicht wirklich, was er tat. Zum vollen Bewusstsein der Wirklichkeit seines Handelns hätte es gehört, dass Ödipus sich beim Vollzug der Taten darüber im klaren gewesen wäre, in welchem genealogischen Verhältnis er zu seinem jeweiligen Gegenüber stand. Auf einer hyperabstrakten Ebene läge ein Ödipuskomplex also immer dann vor, wenn eine handelnde Person nicht im vollen Bewusstsein der situativ-kontextuellen Implikationen agiert – also praktisch immer und überall. Obwohl Freud es wohl etwas anders gemeint hat.

Um wirklich zu wissen, was er tat, als er jenen älteren Mann, mit dem er bei der Überquerung eines Wasserlaufs in Streit geriet, kurzerhand totschlug, hätte Ödipus nicht nur wissen müssen, dass der Mann Laios hieß und sein Vater war. Sondern es hätte ihm zumindest auch noch bekannt und bewusst sein sollen, dass der Vater ihn vor Jahren nur widerwillig gezeugt hatte, weil sein erotisch-sexuelles Hauptinteresse damals dem schönen Jüngling Chrysippos, dem Sohn von Pelops, König von Pisa, galt. Den hatte Laios mit Pelops‘ Einverständnis mit nach Theben genommen, da in Pisa dicke Luft war. Denn Atreus und Thyestes, die beiden älteren Halbbrüder von Chrysippos (dessen Mutter eine Baum-Nymphe war), machten dem von Pelops Bevorzugten das Leben zum Hades. Und so weiter und so fort. Einmal mehr wird deutlich, dass und wie alles mit allem zusammenhängt, und dass ein (wenigstens männliches) Dasein ohne Ödipuskomplex (wenigstens im abstrakten Sinn) praktisch nicht möglich ist.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 20
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Zagreus

Wer, Menschenskinder, war gleich nochmal Zagreus? Richtig, das war der, aus dessen mit Titanen-Asche vermengten Rückständen Prometheus die ersten Menschen, genauer gesagt: die ersten Männer geformt hat. Die erste Frau wurde später in Gestalt der Pandora als andere Eva nachgereicht. Auch sie brachte der Menschheit nicht nur Gutes.

Zagreus aber war ein Guter, die Titanen waren die Bösen, also kommt immer dann, wenn wir Gutes tun, der Zagreus in uns zum Vorschein. Zagreus‘ Eltern waren Zeus und Persephone, die mitunter einfach nur Kore, also Mädchen, genannt wurde. Dieses Mädchen, mit dem Zeus den Zagreus zeugte, war sein Mädchen in doppelter Hinsicht. Erstens im uneigentlichen Sinn als seine (vermutlich minderjährige) Freundin, zweitens im durchaus eigentlichen Sinn von Tochter, wobei ihre Mutter (was einen jetzt kaum noch überraschen wird) Zeus‘ Schwester Demeter war. Dass Zeus keine Tabus kannte, ist das mindeste, was dazu zu sagen wäre.

Um die Eingangsfrage halbwegs vollständig zu beantworten, muss aber nicht nur die Herkunft von Zagreus und damit des Guten in uns beleuchtet werden, sondern man sieht sich im vorliegenden Fall gezwungen, mit quasi forensischer Akribie Nachforschungen über den Verbleib der noch vorhandenen leiblichen Bestandteile nach der Zerstörung von Zagreus‘ körperlicher Integrität anzustellen.

Die Auskunft, Zagreus lebe dank Prometheus in uns fort, ist gewiss nur ein Teil der Wahrheit. Nach einer zwar nicht unumstrittenen, aber hochinteressanten Theorie voller aberwitziger Windungen und Wendungen ist ein zentrales Element von Zagreus‘ Physis, nämlich das Herz, ausnahmsweise post und nicht wie sonst üblich ante mortem seltsame Wege gegangen. Bei Zagreus‘ Vernichtung durch die Titanen unter Anwendung eines Spiegel-Tricks blieb das Zentralorgan nach dieser Theorie (vertreten vor allem durch den Altkriminologen Michael Köhlmeier) unversehrt und gelangte in den Besitz von Zeus, der es zwecks gelegentlicher Verwendung an sich nahm. Denn schließlich war es das Herz jenes Sohnes, dem er eigentlich alles hatte vererben wollen.

Als Zeus dann später oder noch später eine Affäre mit einer gewissen Semele hatte, gab er dieser, aus welchen Gründen auch immer, das Herz seines von ihm so genannten eingeborenen Sohnes zu essen, worauf Semele mit keinem Geringeren als Dionysos schwanger war. „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, oh HERR“, sagt Augustinus. Doch Zagreus‘ Herz, aus dem nun der werdende Dionysos geworden war, musste erst noch den Weg durch Zeus‘ Oberschenkel nehmen, um dann als Dionysos oder „der zum zweiten Mal Geborene“ zwar noch immer keine Ruhe, aber bis auf weiteres eine andere Art von Unruhe zu finden.

Wer also war Zagreus? Vielleicht erinnert man sich an den Rest, wenn man sich einprägt: Der designierte Nachfolger des Zeus, Sohn eines Gottes und zugleich halbe Menschheit und last not least der Proto-Dionysos.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 18
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Zum Stammbaum des Orpheus

Nehmen wir mal an, dass Apollon (und nicht „der einsame Jäger“ Oiagros) der Vater von Orpheus war, dann hatte Orpheus zwar, wie es sich gehört, zwei Großmütter, aber nur einen Großvater, nämlich Zeus, der seinen Vater Apollon mit Leto und seine Mutter Kalliope (die älteste und weiseste der neun klassischen Musen) mit Mnemosyne (der Göttin der Erinnerung) dem Kosmos hinzugefügt hatte. Anders gesagt: Orpheus‘ Eltern Apollon und Kalliope waren Halbgeschwister. Sie setzten damit eine inzestuöse Familientradition fort, denn Orpheus‘ doppelter Großvater Zeus hatte Orpheus‘ Mutter Kalliope mit der eigenen Tante Mnemosyne, der Schwester seines Vaters Kronos, gezeugt. Was, noch einmal anders gesagt, hieß, dass eine von Orpheus‘ Großmüttern (Mnemosyne) und einer seiner Urgroßväter (Kronos) Geschwister waren. Man könnte also sagen, auf der Ebene der Großeltern fehlte Orpheus nicht nur ein Großvater (Zeus spielte die Rolle des Doppel-Großvaters), sondern in gewissem Sinn auch eine Großmutter, da Oma Mnemosyne als Schwester des Urgroßvaters Kronos der Generation der Urgroßeltern angehörte. Überlassen wir es den Genforschern und Psychiatern, zu entscheiden, ob Orpheus trotz oder gerade wegen dieser familiären Defizite zum Urbild der Sänger und Dichter, Lehrer der Orphiker und Autor der orphischen Schriften geworden ist.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 17
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Vom Abphall zur Aphrodite

Wie in Schillers Ballade zu Dionys, dem Tyrannen, Damon – so schlich zu Uranos, dem Titanen, dessen eigener Sohn Kronos. Im Gewand oder offen in der Hand hatte Kronos keinen Dolch, sondern eine Sichel. Auch wollte er nicht „die Stadt vom Tyrannen befreien“, sondern den himmlischen Begatter seiner Erden-Mutter Gaia von dessen Männlichkeit, und zwar während des Vollzugs. Was er dann auch tat. Eine ziemliche Sauerei muss das gewesen sein.

Gaia hatte diese drastische Maßnahme der Familienplanung für erforderlich gehalten, weil Uranos, obwohl er unverdrossen fortzeugte, mit den Resultaten des ehelichen Verkehrs zwischen Himmel und Erde immer weniger zufrieden war. Auf eine Zeit der schönen Titanen-Heldinnen und -Helden war eine Periode der hässlichen Kyklopen und der nicht minder abstoßenden Hekatoncheiren (der „Hundertarmigen“, um Namen zu nennen: Kottos, Biareos, Gyes) gefolgt. Als nun Uranos diese in den Schoß der Erde zurückzustoßen begann, entschied Gaia, dass etwas getan werden müsse.

Nachdem Kronos (er war als einziger der Söhne dazu bereit gewesen) dem Entmannungs-Wunsch der Mutter nachgekommen war und das Glied, um den grellen Vorgang abzuschließen, rücklings über die Schulter ins Meer geworfen hatte, tanzte dieses dort so lange auf den Wellen, bis aus dem weiß umschäumten Treibgut heraus Aphrodite, „die im Schaum Aufstrahlende“, geboren wurde.

Aus einem vorübergehend nutzlos gewordenen Ding wurde unter Zutun des Meeres die Göttin der Liebe und Schutzherrin der Fortpflanzung und seiner Organe. In der Terminologie des Recycling ein klarer Fall von sogenanntem Upcycling, bei dem es zu einer qualitativen Aufwertung kommt. Vom Abphall zur Göttin – wenn das kein Quantensprung auf der ontologischen Karriereleiter ist.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 16
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