Odysseus: Teil drei (Nachspiel)

Telegonos, „der in der Ferne Gezeugte“,  hatte sich von Aiaia auf den Weg nach Ithaka gemacht, um seinen Vater zu finden und zur Rede zu stellen. Warum hatte er seine Mutter Kirke und damit auch ihn, den schon Gezeugten, aber noch nicht Geborenen, bereits nach einem Jahr wieder verlassen!? Nicht, um ihm sein Leid zu klagen, wie es der Insel-Tradition (nomen est omen) entsprochen hätte, sondern um ihn anzuklagen vor den Göttern und der ganzen alteuropäisch-kleinasiatischen Welt, wollte Telegonos Odysseus gegenübertreten.

In seiner schon auf Aiaia vorbereiteten und während der Reise mit asketischer Beharrlichkeit eingeübten Rede begannen die meisten Sätze mit „Warum hast du“ oder „Warum hast du nicht“ beziehungsweise mit „Wie konntest du nur“ oder „Warum konntest du nicht“. Dabei stellte er sich als Gegenüber einen noch immer gutaussehenden, sportlich durchtrainierten Endfünfziger mit ein paar männlich schmissigen Narben im Gesicht vor, der ihn erst geduldig anhören und dann mit einem verständnisvollen Lächeln tröstend in die Arme schließen würde. Komm mit mir ins Arbeitszimmer, mein Sohn, hatte er ihn immer wieder sagen hören, ich glaube, wir haben einiges miteinander zu besprechen.

Als er dann aber am Strand von Ithaka jenen barfüßigen alten Mann mit dem schütteren grauen Haar und den dünnen Armen sagen hörte, er sei derjenige, welcher hier das Sagen habe, war Telegonos sofort klar, dass es sich bei alledem nur um einen großen Irrtum handeln konnte. Worin genau der Irrtum und Fehler bestand und wem er unterlaufen war, wusste er nicht und wollte er nicht wissen. Jedenfalls durfte das alles nicht wahr sein. Und Telegonos beschloss, fortan keinem kein einziges Wort nicht mehr zu glauben. Nicht seiner Mutter und auch nicht sich selbst. Und erst recht nicht dieser lächerlichen Figur von einem Möchtegern-König und Pseudo-Vater.

Also stellte Kirkes Sohn sich dem Alten in den Weg, zückte seinen Speer und fuhr dem Vater, der nie einer gewesen war und nie einer werden sollte, mit der Speerspitze einmal kreuz und quer durchs Gesicht, um ihm so wenigstens einen Ersatz für die Narben zu verpassen, die der peinliche Ex-Lover seiner Mutter sich im Trojanischen Krieg offensichtlich nicht zugezogen hatte. Die Folgen dieser Ritzungen sind bekannt. Odysseus starb vermutlich an einem allergischen Schock als Reaktion auf das für Menschen im allgemeinen und für Troja-Veteranen im besonderen relativ ungefährliche Stachelrochen-Gift, mit dem die Speerspitze präpariert worden war.

Jahre später, Telegonos war zusammen mit seinem Halbbruder Telemachos (nun der Ehemann seiner Mutter Kirke) und Penelope (die Witwe seines Vaters, die dann Telegonos‘ Frau geworden war) längst wieder nach Aiaia zurückgekehrt, dichtete der vor wie nach jener unglücklichen Episode auf Ithaka Vaterlose ein Poem, in dem er die Beziehung zu seinem Erzeuger aufzuarbeiten versuchte. Der Text wurde erst 1971 bei Ausgrabungen auf Aiaia gefunden. In der Übersetzung von Howard Carpendale und Thomas Horn lauten die Schlüssel-Zeilen des Werks mit dem Titel „Lulelalelula“ folgendermaßen: „Deine Spuren im Sand, / Die ich gestern noch fand, / Hat die Flut mitgenommen. / Was gehört nur noch mir? / Lu le lu le lu lei, / Lu le lu le lu lei, / Hat die Flut mitgenommen, / Lu le lu le lu lei. / Deine Liebe, sie schwand / Wie die Spuren im Sand. / Was ist mir nur geblieben? / Nur die Sehnsucht nach Dir.“

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 41
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Odysseus: Teil zwei

Von Odysseus weiß man nicht selten nicht viel mehr, als dass er zehn Jahre im Trojanischen Krieg war und dann noch einmal zehn Jahre gebraucht hat, um den Heimweg nach Ithaka zu finden und dort unter den Bewerbern um seine Nachfolge am Tisch und im Bett von Penelope ein Blutbad anzurichten.

Dass der Krieg zehn Jahre gedauert hat, daran sind die Troer schuld, die die schöne Helena nicht kampflos heraus- oder, wie Menelaos es sah, zurückgeben wollten. Für die schier endlos lange Heimreise macht man, selbst wenn man sie nicht namentlich kennt, automatisch die Kikonen, Lotophagen, Kyklopen, Laistrygonen, Sirenen und Phaiaken verantwortlich, mit denen es Odysseus und seine Gefährten auf die eine oder andere Weise zu tun bekamen. In Wahrheit, falls man das gewichtige Wort in diesem Zusammenhang verwenden darf, sind es aber erst Kirke und dann vor allem Kalypso gewesen, die dafür sorgten, dass aus einer ebenso abwechslungs- wie verlustreichen Tour de Méditerranée (theoretisch zu bewältigen in mehreren Etappen von jeweils zwei bis drei Monaten Dauer) jene Grand Tour wurde, die, von Homer erzählt, als „Odyssee“ bis vor kurzem zum Kernbestand des abendländischen Kulturguts gehörte.

Bei der zauberhaften Kirke verbrachte Odysseus zwar nur, wie er später zu Penelope sagte, „ein paar Tage oder Wochen“ (es waren genaugenommen zwölf Monate), doch blieb nach dieser ausgedehnten Rast auf der Klage-Insel Aiaia dort ein Sohn zurück, der den Namen Telegonos erhielt. Von dem namentlich „in der Ferne Geborenen“ und in ihr Zurückgelassenen wurde Odysseus Jahre später auf schicksalhafte Weise eingeholt. Über die sieben mal zwölf Monate bei Kalypso, der „Verborgenen“, dagegen schweigt des Sängers Höflichkeit. Homer lässt Odysseus nur wortkarg resümieren: „Sieben Jahre blieb ich bei ihr, und netzte mit Tränen / Stets die ambrosischen Kleider, die mir Kalypso geschenket.“ Dass der Ärmste der Armen die tränennassen ambrosischen, also eigentlich nur von Unsterblichen zu tragenden Kleider niemals ausgezogen hat, ist nicht anzunehmen. Denn auch aus dieser Begegnung gingen zwei bis sechs Kinder hervor, deren Namen nicht überliefert sind.

Man hat von alledem dieses und jenes irgendwann und -wo einmal gehört oder gelesen. Wer aber kennt schon den alt gewordenen Odysseus, wer weiß schon, wie Odysseus gestorben ist? Auch nach seiner für nicht wenige tödlichen Rückkehr zu Penelope und seinem Sohn Telemachos fand der Kriegsveteran keine Ruhe. Vom Seher Teiresias stammte der Rat, Odysseus solle mit einem Ruder unterm Arm oder über der Schulter so lange ins Landesinnere wandern, bis er in eine Gegend komme, wo man ihn stirnrunzelnd frage, was das denn für ein Brett sei, das er da mit sich herumschleppe. Dort solle er Halt machen, das Ruder in den Boden rammen und, von der pathologischen inneren Unruhe befreit, wieder nach Hause zurück gehen.

Der nicht der Ataraxie, also der epikureischen Seelenruhe fähige Wanderer tat, wie Teiresias ihm geraten hatte. Alles ging reibungslos vonstatten, bis Odysseus sich auf den Nachhauseweg machte. Im allgemeinen kommt einem der Hinweg länger vor als der Rückweg. Bei Odysseus verhielt es sich umgekehrt, ganz einfach deshalb, weil er auch für diese Rückreise wesentlich länger brauchte als für die Anreise. Dieses Mal war es eine schöne Witwe, bei und in der er hängenblieb. Erst Kirke, dann Kalypso, nun eine Königin namens Kallidike. Eine Dynastie wollte sie begründen – und en passant wurde Odysseus zu deren Stammvater.

Schließlich aber kam jener Tag, an dem der nach Ithaka Zurückgekehrte barfuß am Strand spazieren ging, dabei wiederholt aufs offene Meer hinaus sah und über die wirklich wichtigen Dinge nachdachte. Hat das Epos als literarische Form eine Zukunft? Ist die Lyra dazu in der Lage, den neuen musikalischen Herausforderungen gerecht zu werden? Wo er den Chef finde, hörte er plötzlich jemanden fragen. Wer das wissen wolle, fragte Odysseus zurück. Telegonos, antwortete Telegonos. Der Chef heißt bei uns nicht Chef, sondern König des Staatswesens, sagte Odysseus, und sowohl der König als auch l’état – c’est moi. Und ich bin die Lieblingstochter von Poseidon, höhnte der junge Angeber und stellte sich dem barfüßigen Ruheständler breitbeinig in den Weg.

Ja, er komme von der Insel Aiaia und er sei der Sohn der Kirke. Und mit der Speerspitze habe er den nunmehr Toten nur aus Versehen geritzt, sagte Telegonos später aus. Und dass das Gift des Stachelrochens, das sich daran befunden habe, schon in geringer Konzentration tödlich wirke, wundere ihn. Aber ihr Ehemann war ja nicht mehr der Jüngste, sagte er zu Penelope, und dass er mein Vater war, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.

Als ihm einige Jahre zuvor von Teiresias der Rat mit dem Ruder gegeben worden war, hatte Odysseus, als er sich schon zum Gehen wandte, aus seherischem Munde ganz nebenbei noch erfahren, sein Tod werde sanft sein und er werde aus dem Meer kommen.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 39
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Odysseus: Teil eins

Wie schon gesagt: mater semper certa est, pater numquam. Bei Odysseus ist man sich ziemlich sicher, dass seine Mutter die Tochter des Meisterdiebs Autolykos war, der sein Handwerk von keinem Geringeren als seinem Vater Hermes gelernt oder geerbt oder beides hatte. Hermes zeigte seinem Sohn außerdem einen Trick, wie man das Diebesgut umstandslos in etwas anderes verwandeln kann, um so beim Klauen nicht erwischt oder doch wenigstens nicht des Diebstahls überführt zu werden. Das heißt, immer wenn Autolykos die von ihm geklauten Äpfel auf der Flucht vor dem Apfelbaum-Besitzer in Birnen verwandeln musste, konnte er von Glück sagen, wenn er eigentlich Birnen hatte klauen wollen und nur deshalb Äpfel geklaut hatte, weil er prima vista weder Äpfel von Birnen noch Apfelbäume von Birnbäumen unterscheiden konnte. Aber zurück zu Odysseus.

Autolykos‘ Tochter Antikleia war also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Mutter von Odysseus, in welchen damit mütterlicherseits die Gerissenheits-Gene zweier Trickbetrüger eingeboren waren. Was er von väterlicher Seite mitbekommen hat, könnte man nur dann mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit sagen, wenn man certa wüsste, wer sein Vater war.

Homer nennt als Odysseus‘ Vater Laertes, König von Ithaka, Sohn des Arkeisios und damit nach einer Sage Enkel von Zeus. Odysseus wäre dann einerseits durch seinen Vater Laertes ein Urenkel von Zeus, durch seine Mutter Antikleia aber ein Ururenkel desselben Zeus – falls Zeus jemals ein und derselbe gewesen ist. Vielleicht ist dies, nebenbei bemerkt, einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Zeus und dem monolithischen Gott des Alten Testaments. Während Jahwe von sich sagen konnte und wollte: Ich bin, der ich bin, sagte Zeus ein ums andere Mal: Je suis un autre! – ich bin, der ich nicht bin. Und ward Schwan, Schlange, Stier, Adler und weiß Gott, was sonst noch alles.

Alternativ zu Laertes käme als Vater von Odysseus auch noch Sisyphos in Betracht. Es gab und gibt nämlich Gerüchte, dass Antikleias diebischer Vater Autolykos bei dem Versuch, Sisyphos‘ Vieh zu stehlen, kläglich gescheitert ist und sich in einem Anflug von Reue dazu hinreißen ließ, dem nur beinahe Bestohlenen zur moralischen Wiedergutmachung und getreu dem Motto, einmal sei keinmal, seine schon mit Laertes verlobte Tochter für eine Nacht zur freien Verfügung zu überlassen. Einmal wäre dann aber nicht keinmal, sondern einmal zu viel gewesen.

Nicht diese eine, ebenso ephemere wie folgenreiche Odysseus-Nacht mit Antikleia, falls es sie denn tatsächlich gegeben hat, ist nach Albert Camus der Grund, weshalb wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen. Sondern die Sache mit dem bis in alle Ewigkeit den Berg hinauf zu rollenden Stein. Aber das ist nun wirklich eine ganz andere Geschichte.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 38
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