Wer, Menschenskinder, war gleich nochmal Zagreus? Richtig, das war der, aus dessen mit Titanen-Asche vermengten Rückständen Prometheus die ersten Menschen, genauer gesagt: die ersten Männer geformt hat. Die erste Frau wurde später in Gestalt der Pandora als andere Eva nachgereicht. Auch sie brachte der Menschheit nicht nur Gutes.

Zagreus aber war ein Guter, die Titanen waren die Bösen, also kommt immer dann, wenn wir Gutes tun, der Zagreus in uns zum Vorschein. Zagreus‘ Eltern waren Zeus und Persephone, die mitunter einfach nur Kore, also Mädchen, genannt wurde. Dieses Mädchen, mit dem Zeus den Zagreus zeugte, war sein Mädchen in doppelter Hinsicht. Erstens im uneigentlichen Sinn als seine (vermutlich minderjährige) Freundin, zweitens im durchaus eigentlichen Sinn von Tochter, wobei ihre Mutter (was einen jetzt kaum noch überraschen wird) Zeus‘ Schwester Demeter war. Dass Zeus keine Tabus kannte, ist das mindeste, was dazu zu sagen wäre.

Um die Eingangsfrage halbwegs vollständig zu beantworten, muss aber nicht nur die Herkunft von Zagreus und damit des Guten in uns beleuchtet werden, sondern man sieht sich im vorliegenden Fall gezwungen, mit quasi forensischer Akribie Nachforschungen über den Verbleib der noch vorhandenen leiblichen Bestandteile nach der Zerstörung von Zagreus‘ körperlicher Integrität anzustellen.

Die Auskunft, Zagreus lebe dank Prometheus in uns fort, ist gewiss nur ein Teil der Wahrheit. Nach einer zwar nicht unumstrittenen, aber hochinteressanten Theorie voller aberwitziger Windungen und Wendungen ist ein zentrales Element von Zagreus‘ Physis, nämlich das Herz, ausnahmsweise post und nicht wie sonst üblich ante mortem seltsame Wege gegangen. Bei Zagreus‘ Vernichtung durch die Titanen unter Anwendung eines Spiegel-Tricks blieb das Zentralorgan nach dieser Theorie (vertreten vor allem durch den Altkriminologen Michael Köhlmeier) unversehrt und gelangte in den Besitz von Zeus, der es zwecks gelegentlicher Verwendung an sich nahm. Denn schließlich war es das Herz jenes Sohnes, dem er eigentlich alles hatte vererben wollen.

Als Zeus dann später oder noch später eine Affäre mit einer gewissen Semele hatte, gab er dieser, aus welchen Gründen auch immer, das Herz seines von ihm so genannten eingeborenen Sohnes zu essen, worauf Semele mit keinem Geringeren als Dionysos schwanger war. „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, oh HERR“, sagt Augustinus. Doch Zagreus‘ Herz, aus dem nun der werdende Dionysos geworden war, musste erst noch den Weg durch Zeus‘ Oberschenkel nehmen, um dann als Dionysos oder „der zum zweiten Mal Geborene“ zwar noch immer keine Ruhe, aber bis auf weiteres eine andere Art von Unruhe zu finden.

Wer also war Zagreus? Vielleicht erinnert man sich an den Rest, wenn man sich einprägt: Der designierte Nachfolger des Zeus, Sohn eines Gottes und zugleich halbe Menschheit und last not least der Proto-Dionysos.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 18
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