Türsteherin an der Tür zur Welt der Geister

Wie hier schon erwähnt, steht vor unserem Schlafzimmerfenster eine Birke, genauer gesagt: die oberen äußeren Äste einer Betula pendula pendeln vor den Scheiben hin und her.

Heute fand ich in Fred Hagedorns „Der Geist der Bäume“ den Hinweis, dass im sibirischen Schamanismus die Birke nicht nur der „Baum des beginnenden Jahres, des beginnenden Frühjahrs“, sondern der Weltenbaum selbst sei. „Sie wird als udesi-burchan, ‚Gottheit der Tür‘ geehrt, sie hilft dem Schamanen, in die Welt der Geister einzudringen, und – sehr wichtig – wieder zurückzukehren.“

Seit ich dies weiß, vergewissere ich mich am Morgen nach dem Aufstehen, dass die Birke noch an ihrem im wahrsten Sinn des Wortes angestammten Platz steht und ich mich somit noch oder wieder im gewöhnlichsten Hier und Jetzt befinde.

Und es war finster auf der Tiefe

Wenn man uns nicht in einem gewissen Alter darüber aufgeklärt hätte, woher wir stammen, und wenn wir dann nicht aufgrund eigener Recherchen zu der Ansicht gelangt wären, dass an dieser Theorie etwas dran sein muss – wir hätten aufgrund eigener bewusster Erfahrungen keine Ahnung, wie, wo und wann wir zur Welt gekommen sind. Wie sich der einzelne Mensch ohne das Zeugnis anderer im Hinblick auf seine Entstehung ein Rätsel bleiben muss, so rätselt unsere Gattung nach wie vor an ihrer sogenannten Phylogenese herum. Denn welche Spezies könnte der unseren sagen, wie das damals im einzelnen vor sich gegangen ist. Kosmische Ausmaße nehmen die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des Kosmos an. Am Ende, also an ihrem Anfang, werden die Sachen, denen man auf den Grund zu kommen sucht, undurchschaubar, um nicht zu sagen: chaotisch.

Am Anfang war also das Chaos. Und dann entstand aus dem Chaos zunächst und vor allem anderen die primäre Dunkelheit Erebos, worauf die Nacht Nyx folgte. So jedenfalls Hesiod. Das Chaos ist anscheinend so verworren, dass man in ihm nicht einmal zwischen Hell und Dunkel unterscheiden kann; „Chaos“ ist mithin ein Synonym für „das, worüber man nichts sagen kann, außer dass es nicht nichts ist“.

Damit es hell werden kann, muss es zuvor dunkel gewesen sein. „Komm mach mal Licht, damit man sehen kann, ob was da ist“, sang Bertolt Brecht 1928 auf eine Melodie von Kurt Weill und einige tanzten Foxtrott dazu. Erebos, die Dunkelheit, kommt vor Aither, dem Licht – die Nacht Nyx vor dem Tag Hemera. Der Tag und das Licht sind bemerkenswerterweise Kinder der Finsternis und der Nacht. Wo die Nacht und die Finsternis am tiefsten, sind der Tag und das Licht am nächsten. Nyx hatte darüber hinaus Dutzende von Sprösslingen im eigentlichen Sinn, also von ungeschlechtlich entstandenen Nachkommen, wohingegen Hemera und Aither, die Personifikationen von Tag und Licht, mytho-genealogisch folgenlos geblieben sind.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 15
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Don’t think twice, it’s all right

„I realized at that time that the press, the media, they’re not the judge. God’s the judge. The only person you have to think about lying twice to is either yourself or to God. The press isn’t either of them.“

Bob Dylan (auf die Frage, warum er die Presse gerne belogen habe)

Eurynome oder: Die Ära des tanzenden Monotheismus

Der englische Schriftsteller und Mythenforscher Robert Graves (1895-1985) beginnt sein bekanntes zweibändiges Werk über die griechischen Mythen mit einem Kapitel über den Schöpfungsmythos der Pelasger. Ob es die Pelasger als Volk vor den Griechen mit eigener Sprache tatsächlich gab – nichts Genaues weiß man nicht.¹ Erwähnt werden sie jedenfalls sowohl bei Homer als auch bei Hesiod.

Eurynome (die Weithinwaltende), man betont die dritte Silbe, „rose“, wie Graves schreibt, „naked from Chaos, but found nothing substantial for her feet to rest upon, and therefore divided the sea from the sky, dancing lonely upon its waves.“ Da es neben ihr in dieser Phase des initial tanzenden Monotheismus weder Göttinnen noch Götter gab, schuf sie sich, indem sie den sie verfolgenden Nordwind zwischen ihren Händen formend hin und her rieb, in der Schlange Ophion einen ebenso paarungsbereiten wie zeugungsfähigen Gatten.

In Gestalt einer Taube legte Eurynome anschließend das „Universal Egg“, um welches Ophion sich siebenmal herumwand, so dass es schließlich entzwei brach. „Out tumbled all things that exist“: die Sonne, der Mond, die Planeten, die Sterne und die Erde mit ihren Bergen, Flüssen, Bäumen, Kräutern „and living creatures.“

Nachdem Eurynome und Ophion sich auf dem Olymp niedergelassen hatten, kam es zwischen ihnen zu einem urheberrechtlichen Streit darüber, wer die Welt geschaffen habe. Bei der handgreiflichen Auseinandersetzung zog Ophion den Kürzeren und Eurynome „banished him to the dark caves below the earth.“

An dieser Stelle verlasse ich den Text von Robert Graves und werfe noch rasch einen Blick in das von W. H. Roscher in den 1880er Jahren herausgegebene „Ausführliche Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“. Der von Graves erzählte Schöpfungsmythos bleibt dort weitgehend im Dunkel einer „früheren Zeit“ verborgen. In dieser „hatte Eurynome mit dem Titanen Ophion die Herrschaft auf dem ’schneereichen‘ Olympos inne, aber sie mußten dem Kronos und der Rhea weichen und stürzten hinab in die Wellen des Okeanos; resp. in den Tartaros“. Der mit Machtverlust verbundene Absturz, der bei Graves nur dem eher männlichen Teil der seltsamen Verbindung widerfährt, wird bei Roscher zum geteilten Schicksal des ungleichen Paars.

Immerhin geht aus Roschers Lexikon hervor, dass mit dem „Herrschendwerden der Zeusreligion“ eine mythologische Geschichts- oder Geschichtenklitterung einhergegangen sein muss. Als Indiz für das ursprünglich hohe Ansehen, das Eurynome in der Ära vor Zeus vermutlich genossen hat, verweist Roscher darauf, dass es nach Pausanias (Reiseschriftsteller im 2. Jahrhundert n. Chr.) in der Nähe von Phigaleia (westlicher Peloponnes) einen altheiligen, aber schwer zugänglichen Tempel gegeben habe. „Das darin aufgestellte Bild sei mit goldenen Ketten zusammengehalten gewesen, und habe bis zu den Hüften die Gestalt einer Frau, von da ab die eines Fisches gehabt.“ All dies spreche, so Roscher, „für die alte Ophionsgattin“ und weder für Artemis, der man den Tempel zugeordnet hat, noch für die spätere Eurynome der Ära Zeus – aber das wäre dann noch einmal eine ganz andere Geschichte.

¹ Graves vermutet, es könnte sich bei ihnen um die neolithischen „‚Painted Ware‘ people“ handeln, die um 3500 v. Chr. aus Palästina kommend das griechische Festland erreicht haben sollen. Nach ihnen sucht man allerdings heute im Netz vergeblich.

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