27. März 2025 | Mythenlese, Mythos Mythisches Mythologie
Was machst du, wenn es klingelt und einer von Hermes bringt dir ein Päckchen, in dem sich ein in Noppenfolie eingewickeltes XXL-großes Ei befindet? Als Absender ist nur Olymp angegeben. Woher wissen die, wo ich wohne, wunderst du dich. Denn obwohl die sympathische Dame, bei der du neulich das weiße Olymp-Hemd mit dem aufsehenerregenden Innen-Stoff gekauft hast, sich sehr um dich bemüht und dich ebenso fachkundig wie freundlich beraten hat, wolltest du ihr deine Adresse zwecks regelmäßiger Zusendung von Informationsmaterial dennoch nicht mitteilen. Und hast stattdessen ihr Angebot, da es nach deinem Eindruck rein geschäftlich motiviert war, höflich, aber bestimmt abgelehnt. Und warum schicken die mir jetzt trotzdem ein Ei, und noch dazu so ein dickes?
Wenn du dich in der griechischen Mythologie etwas besser auskennen würdest und nicht nur die dubiosen, kaum noch authentisch zu nennenden Plots aus zweiter und dritter Nachdichter- und -malerhand rezipiert hättest, wüsstest du, was du jetzt zu tun hast: Mit dem Ei ins Bett gehen und mehr oder weniger geduldig darauf warten, dass sich aus ihm, dem Ei, eine schöne Helena herausschält.
Zeus persönlich brachte nämlich ein Ei wie dieses, das Nemesis, die Titanin, schließlich als Gans gelegt hatte, nachdem sie von Zeus in Gestalt eines Schwans, mit Verlaub: gevögelt worden war – Zeus also brachte solch ein Ei nach Lakedaimon (besser unter dem Namen Sparta bekannt) und ließ es vor den Toren der Stadt am Wegesrand liegen. Er vertraute darauf, dass binnen kurzem jemand vorbeikommen, das Ei finden und zu Leda, der Gemahlin des spartanischen Königs Tyndareos, bringen würde. Die Moiren gingen mit Zeus d’accord und so fand das Ei seinen Weg in Ledas Haute Cuisine.
Was sie denn mit dem Straußenei vorhabe, fragte Tyndareos, der gerade auf der Suche nach so etwas wie einem Horsd’œuvre war. Das habe bestimmt kein Strauß, sondern wahrscheinlich ein Geier gelegt, mutmaßte Leda, die zu drastischen Vergleichen und gewagten Hypothesen neigte. Sie wolle es mal ausbrüten, dann werde man ja sehen. Leda verzog sich mit der Fundsache ins Bett und gebar, wenn man so will, bereits nach wenigen Tagen das schönste Kleinkind der Welt. Helena, sagte Tyndareos, ohne zu wissen, wie er darauf kam. Unsere Tochter soll Helena heißen.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 22
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					20. März 2025 | Mythenlese, Mythos Mythisches Mythologie
Eine Klausurfrage zum Abschluss einer Einführung in die Genealogie der griechischen Mythologie könnte beispielsweise lauten: Mit welchen möglichen familiären Hintergründen ist zu rechnen, wenn Atreus seine Nichte Pelopeia und deren Sohn Aigisthos bei sich aufnimmt, und dieser Sohn zugleich der Neffe von Atreus ist?
Antwort: Entweder ist Pelopeia die Tochter einer Schwester oder eines Bruders von Atreus, sonst wäre sie nicht seine Nichte. Wenn sie die Tochter einer Schwester ist, dann muss (Inzest-Fall Nr. 1) Atreus einen Bruder haben, der mit Pelopeia, also seiner und Atreus‘ Nichte, Aigisthos gezeugt hat, sonst wäre dieser nicht der Neffe (der Geschwister-Sohn) von Atreus. Wenn Pelopeia dagegen die Tochter eines Bruders von Atreus ist, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens (Inzest-Fall Nr. 2): Ein dritter Bruder hat mit seiner Nichte Pelopeia (der Tochter seines Bruders, der nicht Atreus ist) Aigisthos gezeugt. Zweitens (Inzest-Fall Nr. 3): Der Bruder, dessen Tochter Pelopeia ist, hat selbst mit dieser seiner Tochter einen Sohn (Aigisthos) gezeugt, der als sein Sohn der Neffe seines Bruders Atreus ist.
Mythologisch verbürgt ist bekanntlich Inzest-Fall Nr. 3, der gravierendste von allen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Atreus‘ Zwillingsbruder Thyestes, der Vater von Pelopeia und von deren Sohn Aigisthos, die Vergewaltigung seiner Tochter auch als vorweggenommenen Brudermord erlebt haben muss. Der zukünftige Sohn sollte, wie es vom Delphischen Orakel auf Thyestes‘ Anfrage vorhergesagt worden war, zu Ende bringen, was schon im Mutterleib als unversöhnlicher Streit zwischen den heil- und gnadenlosen Zwillingen begonnen hatte. An die zwanzig Jahre Kerkerhaft des Thyestes bei Atreus in Mykene und die vorübergehende, scheinbare Wendung der Prophezeiung in ihr Gegenteil konnten daran am Ende nichts ändern.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 21
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					13. März 2025 | Mythenlese, Mythos Mythisches Mythologie, Ödipus
Wie Christus kein Christ und Marx kein Marxist war, so hatte Ödipus keinen Ödipuskomplex. Wenn im Anfang das Wort war, dann war aber mit dem Anfang zugleich die noch namenlose Tat des Verbalisierens oder, wo weder Tat noch Wort war, das Chaos. Die aus dem Chaos geborene Tat des Ödipus, deren psychischen Hintergrund Sigmund Freud ein paar Generationen später einen Ödipuskomplex nannte, bestand aus zwei Komponenten: aus einem Totschlag und einem Beischlaf. Es liegt in der Natur der Sache, also des Menschen, dass der eine singulär blieb, während der andere notorisch wurde.
Beschlafen wurde von Ödipus seine Mutter Iokaste, totgeschlagen sein Vater Laios. Bekanntermaßen wusste Ödipus in beiden Fällen nicht wirklich, was er tat. Zum vollen Bewusstsein der Wirklichkeit seines Handelns hätte es gehört, dass Ödipus sich beim Vollzug der Taten darüber im klaren gewesen wäre, in welchem genealogischen Verhältnis er zu seinem jeweiligen Gegenüber stand. Auf einer hyperabstrakten Ebene läge ein Ödipuskomplex also immer dann vor, wenn eine handelnde Person nicht im vollen Bewusstsein der situativ-kontextuellen Implikationen agiert – also praktisch immer und überall. Obwohl Freud es wohl etwas anders gemeint hat.
Um wirklich zu wissen, was er tat, als er jenen älteren Mann, mit dem er bei der Überquerung eines Wasserlaufs in Streit geriet, kurzerhand totschlug, hätte Ödipus nicht nur wissen müssen, dass der Mann Laios hieß und sein Vater war. Sondern es hätte ihm zumindest auch noch bekannt und bewusst sein sollen, dass der Vater ihn vor Jahren nur widerwillig gezeugt hatte, weil sein erotisch-sexuelles Hauptinteresse damals dem schönen Jüngling Chrysippos, dem Sohn von Pelops, König von Pisa, galt. Den hatte Laios mit Pelops‘ Einverständnis mit nach Theben genommen, da in Pisa dicke Luft war. Denn Atreus und Thyestes, die beiden älteren Halbbrüder von Chrysippos (dessen Mutter eine Baum-Nymphe war), machten dem von Pelops Bevorzugten das Leben zum Hades. Und so weiter und so fort. Einmal mehr wird deutlich, dass und wie alles mit allem zusammenhängt, und dass ein (wenigstens männliches) Dasein ohne Ödipuskomplex (wenigstens im abstrakten Sinn) praktisch nicht möglich ist.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 20
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					6. März 2025 | Mythenlese, Mythos Mythisches Mythologie
Wer, Menschenskinder, war gleich nochmal Zagreus? Richtig, das war der, aus dessen mit Titanen-Asche vermengten Rückständen Prometheus die ersten Menschen, genauer gesagt: die ersten Männer geformt hat. Die erste Frau wurde später in Gestalt der Pandora als andere Eva nachgereicht. Auch sie brachte der Menschheit nicht nur Gutes.
Zagreus aber war ein Guter, die Titanen waren die Bösen, also kommt immer dann, wenn wir Gutes tun, der Zagreus in uns zum Vorschein. Zagreus‘ Eltern waren Zeus und Persephone, die mitunter einfach nur Kore, also Mädchen, genannt wurde. Dieses Mädchen, mit dem Zeus den Zagreus zeugte, war sein Mädchen in doppelter Hinsicht. Erstens im uneigentlichen Sinn als seine (vermutlich minderjährige) Freundin, zweitens im durchaus eigentlichen Sinn von Tochter, wobei ihre Mutter (was einen jetzt kaum noch überraschen wird) Zeus‘ Schwester Demeter war. Dass Zeus keine Tabus kannte, ist das mindeste, was dazu zu sagen wäre.
Um die Eingangsfrage halbwegs vollständig zu beantworten, muss aber nicht nur die Herkunft von Zagreus und damit des Guten in uns beleuchtet werden, sondern man sieht sich im vorliegenden Fall gezwungen, mit quasi forensischer Akribie Nachforschungen über den Verbleib der noch vorhandenen leiblichen Bestandteile nach der Zerstörung von Zagreus‘ körperlicher Integrität anzustellen.
Die Auskunft, Zagreus lebe dank Prometheus in uns fort, ist gewiss nur ein Teil der Wahrheit. Nach einer zwar nicht unumstrittenen, aber hochinteressanten Theorie voller aberwitziger Windungen und Wendungen ist ein zentrales Element von Zagreus‘ Physis, nämlich das Herz, ausnahmsweise post und nicht wie sonst üblich ante mortem seltsame Wege gegangen. Bei Zagreus‘ Vernichtung durch die Titanen unter Anwendung eines Spiegel-Tricks blieb das Zentralorgan nach dieser Theorie (vertreten vor allem durch den Altkriminologen Michael Köhlmeier) unversehrt und gelangte in den Besitz von Zeus, der es zwecks gelegentlicher Verwendung an sich nahm. Denn schließlich war es das Herz jenes Sohnes, dem er eigentlich alles hatte vererben wollen.
Als Zeus dann später oder noch später eine Affäre mit einer gewissen Semele hatte, gab er dieser, aus welchen Gründen auch immer, das Herz seines von ihm so genannten eingeborenen Sohnes zu essen, worauf Semele mit keinem Geringeren als Dionysos schwanger war. „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, oh HERR“, sagt Augustinus. Doch Zagreus‘ Herz, aus dem nun der werdende Dionysos geworden war, musste erst noch den Weg durch Zeus‘ Oberschenkel nehmen, um dann als Dionysos oder „der zum zweiten Mal Geborene“ zwar noch immer keine Ruhe, aber bis auf weiteres eine andere Art von Unruhe zu finden.
Wer also war Zagreus? Vielleicht erinnert man sich an den Rest, wenn man sich einprägt: Der designierte Nachfolger des Zeus, Sohn eines Gottes und zugleich halbe Menschheit und last not least der Proto-Dionysos.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 18
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					27. Februar 2025 | Mythenlese, Mythos Mythisches Mythologie, Orpheus
Nehmen wir mal an, dass Apollon (und nicht „der einsame Jäger“ Oiagros) der Vater von Orpheus war, dann hatte Orpheus zwar, wie es sich gehört, zwei Großmütter, aber nur einen Großvater, nämlich Zeus, der seinen Vater Apollon mit Leto und seine Mutter Kalliope (die älteste und weiseste der neun klassischen Musen) mit Mnemosyne (der Göttin der Erinnerung) dem Kosmos hinzugefügt hatte. Anders gesagt: Orpheus‘ Eltern Apollon und Kalliope waren Halbgeschwister. Sie setzten damit eine inzestuöse Familientradition fort, denn Orpheus‘ doppelter Großvater Zeus hatte Orpheus‘ Mutter Kalliope mit der eigenen Tante Mnemosyne, der Schwester seines Vaters Kronos, gezeugt. Was, noch einmal anders gesagt, hieß, dass eine von Orpheus‘ Großmüttern (Mnemosyne) und einer seiner Urgroßväter (Kronos) Geschwister waren. Man könnte also sagen, auf der Ebene der Großeltern fehlte Orpheus nicht nur ein Großvater (Zeus spielte die Rolle des Doppel-Großvaters), sondern in gewissem Sinn auch eine Großmutter, da Oma Mnemosyne als Schwester des Urgroßvaters Kronos der Generation der Urgroßeltern angehörte. Überlassen wir es den Genforschern und Psychiatern, zu entscheiden, ob Orpheus trotz oder gerade wegen dieser familiären Defizite zum Urbild der Sänger und Dichter, Lehrer der Orphiker und Autor der orphischen Schriften geworden ist.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 17
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