Noch immer immer dagegen arbeiten?

Man müsse „immer dagegen arbeiten, sogar gegen sich selbst“, soll Picasso gesagt haben. Als er 1906/07 auf beinahe sechs Quadratmetern seine Demoiselles d’Avignon malte, scheint das nötig gewesen zu sein. Sein Freund André Salmon traf ihn während der Arbeit, wie man liest, in einem prekären geistigen Zustand an. Den „Wendepunkt in der Geschichte der abendländischen Malerei“ (Wikipedia) mochten zunächst die Wenigsten. Henri Matisse soll empört gewesen sein. Picasso selbst war es womöglich auch. Aber es galt ja: „immer dagegen arbeiten, sogar gegen sich selbst“. Also die permanente Revolution. Das Ziel habe Picasso gesucht „in der kraftvollen Wirkung der malerischen Schrift aus sich selbst heraus“, schreibt Dorothea Eimert in ihrem lesenswerten Buch über den Kubismus. Sein künstlerisches Brot musste Picasso also schwer und hart gegen sich selbst erarbeiten. Um etwas zu erreichen, das heute jedem zur Verfügung zu stehen scheint, der geistig und praktisch nicht einen Finger dafür krumm gemacht hat: eine (damals) neue Möglichkeit des Ausdrucks „in den Linien, Farben, Formen, in Pinselstrichen und den Strichen selbst“ (Eimert). Mehr gelangweilt als souverän wählen wir zwischen figürlichen, abstrakten oder konzeptuellen „Positionen“. Wen wundert es da, dass sich beinahe niemand mehr wirklich für Malerei interessiert, jedenfalls nicht für die rezente. „Immer dagegen arbeiten, sogar gegen sich selbst“ – was könnte das heute heißen? Ist das überhaupt noch eine Maxime, die man sich ins Merkbuch schreiben möchte? Was wäre die Alternative? Eine Kunst, der man ansieht: sie ist froh darüber, dass sie die Zeit der permanenten, zwanghaft die eigenen Kinder fressenden Revolutionen hinter sich hat?

Diesen Text, geschrieben vor einigen Jahren, fand ich heute beim Aufräumen meiner Website; ich hatte ihn auf „Entwurf“ gestellt, um ihn vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Warum eigentlich? fragte ich mich, änderte den letzten Satz und gab ihm, dem Text, unter einer neuen Überschrift eine zweite Chance.

Vorwärts und rückwärts Blatt

„Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf.“

J. W. Goethe (Neapel,17. Mai 1787)

Das Weiß der Birke

Ueber eine neue, fast benzoeartige, Substanz der Birken; vom Hrn Lowitz.¹ [1788]

Die kleinen weißen Flocken, welche auf der weißen Rinde des Birkenholzes erscheinen, wenn es in einer bestimmten Nähe an offenes Feuer gebracht wird, und die von Zeit zu Zeit verfliegen, sind eine sehr artige, weiße zarte Vegetation, die ich erst durch Zufall bemerkte, und sie dann durch Uebung schön und häufig sammeln lernte. Ich schloß sie zwischen 2 Glasscheiden, um dadurch ihr Zusammenfallen zu hindern. Sie ist wollenähnlich, und besteht bey genauer Betrachtung, aus lauter sehr zarten Spießchen. Ich lege zur Befriedigung der Neugierde, eine Scheibe mit dieser Vegetation bey. Hält man sie im Dunkeln gegen ein Licht, so erkennt man lauter kleine concentrische Ringe und Kreise in derselben.

Um diese Flocken zur chemischen Prüfung in einiger Menge zu bekommen, legte ich die weiße Birkenrinde in einen Kolben, und hofte die Flocken durch Sublimation, etwan wie Benzoeblumen, zu erhalten. Dis schlug aber fehlt, und ich erhielt blos die gewöhnlichen Produkte einer starken trocknen Destillation, sauer Phlegma und Oehl.

Ich stellte also mehrere Scheite von jungen Birken mit weißer Rinde, aufgerichtet, so nahe an ein sehr ruhiges Feuer, bis das Holz stark zu dampfen und die Rinde braun zu werden anfing; da denn nach etwan 10 Minuten die Flocken ziemlich zu erscheinen anfingen, die ich mit einem Papier öfters abnahm. Wenn keine Flocken mehr erschienen, nahm ich ander Holz u.s.f. Auf diese Weise sammlete ich in einem Tage ein offenes Glas voll, welches 1 Pf. Wasser hielt; die Flocken aber wogen nur etwan 8 bis 10 Gran. Wenn sie noch auf dem Holze sitzen, so führt sie die geringste Bewegung der Luft fort.

Einige Proben ergeben, daß keine andere Rinden, und von der Birkenrinde auch nur die weiße Oberhaut, diese Flocken geben. Die Materie derselben sitzt, als ein sehr zarter Staub, nicht nur auf der obersten Haut der Rinde, sondern zwischen allen ihren sehrt zarten Lagen, so daß man sie mit einem gefärbten seidenen Läppchen, als weißen Staub abwischen kann. Die abgewischten Häutchen bleiben bräunlich nach; daher dieser weiße Staub die Ursache ihrer blendenden Weiße zu seyn scheint.

Streut man die Flocken auf eine glühende Kohle; so verzehren sie sich, als Rauch, mit angenehmem Geruch. Auf einer Messerspitze ins Licht gehalten, brennen sie mit weißer Flamme.

In einem silbernen Löffel schmolzen sie bey starker Hitze eines Lichts, und ließen einen harzigen Rand nach. Mit Wasser lassen sie sich nicht wischen, und noch weniger lösen sie sich in demselben auf. Destilliert Wasser, in welchem 8 Gran Flocken lange gekocht waren, zeigte sich nachher gegen alle Hülfsmittel noch völlig rein. Mildes und kaustisches Laugensalz würkten nicht auf dieselben. Von Vitriolöhl wurden sie ruhig, aber bald aufgelöst. Diese Auflösung in Wasser getröpfelt, erstarrte, und die Tropfen wurden bald nachher weiß; auch ließen sie sich am Wasser mit dem Finger zertheilen. Essignaphte löste sie leicht auf. Beym Abdampfen blieb ein weißer Fleck nach.

Mandel- und eben so Terpentinöhl lösten sie auf. Eine Unze vom stärksten Weingeiste löste kalt nur 4 Gran, warm 6 Gran dieser Flocken auf; diese 2 Gran aber fielen beym Erkalten, als weiße zarte Härchen, zu Boden, und der Weingeist stand etwas gallerthaft darüber, ward aber durch Schütteln wieder flüßig. Schwefelleberauflösung trübte sich von dieser Solution nicht.

Es wurden 40 Gran Flocken trocken destilliert. Sie schmolzen erst; dann legte sich ein weißer Staub am Halse des Glases an, der aber verschwand, als sehr zähes Oehl ging. Es waren 5 Gr. wasserklares Phlegma und 18 Gran braunes wohlriechendes Harz übergegangen, welches sich auf Kohlen wie die Flocken selbst betrug. Die Retorte war stark angeschmaucht, und der Rest wog 6 Gran, die im Kalziniren 2 Gran Asche gaben. Salpetersäure löste sie zur Hälfte auf, und Vitriolsäure fällete sie aus derselben, als Selenit. Es scheint mir ein besonderes modificirtes Harz in der Gestalt eines Salzes zu seyn; weniger Aehnlichkeit hat es mit den flüchtigen brennbaren Salzen, welche sich in einigen ätherischen Oehlen zeigen.

Ich kochte auch 1 1/2 Quentch. der feinen weißen Birkenhäutchen mit viel Wasser aus, und erhielt 5 Gr. Extrakt; die Rinde bleib weiß. Diese wieder getrocknet, und mit 5 Unzen vom stärksten Weingeist warm ausgezogen, ertheilte demselben eine gelbliche Farbe, und die Rinde verlohr die weiße Farbe. Nach völligem Erkalten trübte sich die Tinktur, und gab einen weißen feinen Bodensatz. Die Tinktur ward eingetrocknet, und ließ 20 Gran einer harzähnlichen Substanz nach, die sich in den Prüfungen, wie die Flocken betrug; doch zeigte sie auch etwas gemeines Harz. Die flockige Substanz ist also ein Edukt, nicht Produkt der weißen Birkenhäutchen.

¹ In: Chemische Annalen für die Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haushaltungskunst und Manufakturen. 1788,1

Strukturformel von Betulin (abgeleitet von „Betula“, dem lateinischen Gattungsnamen der Birke), das in abgestorbenen Zellen der Birkenrinde enthalten und für die weiße Farbe derselben verantwortlich ist.

Strukturformeln wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, also rund hundert Jahre nachdem Johann Tobias Lowitz (1757-1804) seine auf der linken Seite von ihm selbst beschriebenen Untersuchungen durchgeführt hatte. Nach Wikipedia war es der Schotte Alexander Crum Brown (1838-1922), der im Jahr 1864 erstmals eine Strukturformel verwendete, „in der die Bindungen zwischen den Atomen durch Striche gekennzeichnet wurden.“

Baum und Mensch auf Augenhöhe

„Soviel aber können wir sagen, daß die aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei Seiten sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht.“

J. W. Goethe (Schriften zur Morphologie)

Baum und Mensch hätten demnach ihre evolutionäre Spitzen- oder Endstellung gemeinsam – der Baum als Vervollkommnung der pflanzlichen, der Mensch als Nonplusultra der tierischen Reihe von Geschöpfen. In dieser Hinsicht begegnet man sich quasi auf Augenhöhe.

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