Habe beschlossen, einen Roman zu schreiben – Arbeitstitel: „Passionsspiele“. Grundlage sind die Briefe, die mein Vater Ende der 1950er Jahre an meine Mutter geschrieben hat. Nein, es wird kein Briefroman.
Eher ein Recherche-, also ein Wikipedia-Roman.
Beginne mit einem Rückblick auf das Jahr meiner Geburt. Stelle fest, dass am 8. September 1955 neben mir und dem österreichischen Komponisten und Violinisten Jörg Widmoser auch noch der russische General Waleri Wassiljewitsch Gerassimow geboren wurde. Wird in meinem Roman wahrscheinlich keine Rolle spielen.
Zirka achtzig Prozent der bei Wikipedia Aufgelisteten sind noch am Leben. Auch ich lebe noch zu etwa achtzig Prozent (plus/minus fünfundzwanzig Prozent je nach Tagesform).
Nehmen wir mal an, dass Apollon (und nicht „der einsame Jäger“ Oiagros) der Vater von Orpheus war, dann hatte Orpheus zwar, wie es sich gehört, zwei Großmütter, aber nur einen Großvater, nämlich Zeus, der seinen Vater Apollon mit Leto und seine Mutter Kalliope (die älteste und weiseste der neun klassischen Musen) mit Mnemosyne (der Göttin der Erinnerung) dem Kosmos hinzugefügt hatte. Anders gesagt: Orpheus‘ Eltern Apollon und Kalliope waren Halbgeschwister. Sie setzten damit eine inzestuöse Familientradition fort, denn Orpheus‘ doppelter Großvater Zeus hatte Orpheus‘ Mutter Kalliope mit der eigenen Tante Mnemosyne, der Schwester seines Vaters Kronos, gezeugt. Was, noch einmal anders gesagt, hieß, dass eine von Orpheus‘ Großmüttern (Mnemosyne) und einer seiner Urgroßväter (Kronos) Geschwister waren. Man könnte also sagen, auf der Ebene der Großeltern fehlte Orpheus nicht nur ein Großvater (Zeus spielte die Rolle des Doppel-Großvaters), sondern in gewissem Sinn auch eine Großmutter, da Oma Mnemosyne als Schwester des Urgroßvaters Kronos der Generation der Urgroßeltern angehörte. Überlassen wir es den Genforschern und Psychiatern, zu entscheiden, ob Orpheus trotz oder gerade wegen dieser familiären Defizite zum Urbild der Sänger und Dichter, Lehrer der Orphiker und Autor der orphischen Schriften geworden ist.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 17 Weitere Leseproben hier