Vom Abphall zur Aphrodite

Wie in Schillers Ballade zu Dionys, dem Tyrannen, Damon – so schlich zu Uranos, dem Titanen, dessen eigener Sohn Kronos. Im Gewand oder offen in der Hand hatte Kronos keinen Dolch, sondern eine Sichel. Auch wollte er nicht „die Stadt vom Tyrannen befreien“, sondern den himmlischen Begatter seiner Erden-Mutter Gaia von dessen Männlichkeit, und zwar während des Vollzugs. Was er dann auch tat. Eine ziemliche Sauerei muss das gewesen sein.

Gaia hatte diese drastische Maßnahme der Familienplanung für erforderlich gehalten, weil Uranos, obwohl er unverdrossen fortzeugte, mit den Resultaten des ehelichen Verkehrs zwischen Himmel und Erde immer weniger zufrieden war. Auf eine Zeit der schönen Titanen-Heldinnen und -Helden war eine Periode der hässlichen Kyklopen und der nicht minder abstoßenden Hekatoncheiren (der „Hundertarmigen“, um Namen zu nennen: Kottos, Biareos, Gyes) gefolgt. Als nun Uranos diese in den Schoß der Erde zurückzustoßen begann, entschied Gaia, dass etwas getan werden müsse.

Nachdem Kronos (er war als einziger der Söhne dazu bereit gewesen) dem Entmannungs-Wunsch der Mutter nachgekommen war und das Glied, um den grellen Vorgang abzuschließen, rücklings über die Schulter ins Meer geworfen hatte, tanzte dieses dort so lange auf den Wellen, bis aus dem weiß umschäumten Treibgut heraus Aphrodite, „die im Schaum Aufstrahlende“, geboren wurde.

Aus einem vorübergehend nutzlos gewordenen Ding wurde unter Zutun des Meeres die Göttin der Liebe und Schutzherrin der Fortpflanzung und seiner Organe. In der Terminologie des Recycling ein klarer Fall von sogenanntem Upcycling, bei dem es zu einer qualitativen Aufwertung kommt. Vom Abphall zur Göttin – wenn das kein Quantensprung auf der ontologischen Karriereleiter ist.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 16
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Und es war finster auf der Tiefe

Wenn man uns nicht in einem gewissen Alter darüber aufgeklärt hätte, woher wir stammen, und wenn wir dann nicht aufgrund eigener Recherchen zu der Ansicht gelangt wären, dass an dieser Theorie etwas dran sein muss – wir hätten aufgrund eigener bewusster Erfahrungen keine Ahnung, wie, wo und wann wir zur Welt gekommen sind. Wie sich der einzelne Mensch ohne das Zeugnis anderer im Hinblick auf seine Entstehung ein Rätsel bleiben muss, so rätselt unsere Gattung nach wie vor an ihrer sogenannten Phylogenese herum. Denn welche Spezies könnte der unseren sagen, wie das damals im einzelnen vor sich gegangen ist. Kosmische Ausmaße nehmen die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des Kosmos an. Am Ende, also an ihrem Anfang, werden die Sachen, denen man auf den Grund zu kommen sucht, undurchschaubar, um nicht zu sagen: chaotisch.

Am Anfang war also das Chaos. Und dann entstand aus dem Chaos zunächst und vor allem anderen die primäre Dunkelheit Erebos, worauf die Nacht Nyx folgte. So jedenfalls Hesiod. Das Chaos ist anscheinend so verworren, dass man in ihm nicht einmal zwischen Hell und Dunkel unterscheiden kann; „Chaos“ ist mithin ein Synonym für „das, worüber man nichts sagen kann, außer dass es nicht nichts ist“.

Damit es hell werden kann, muss es zuvor dunkel gewesen sein. „Komm mach mal Licht, damit man sehen kann, ob was da ist“, sang Bertolt Brecht 1928 auf eine Melodie von Kurt Weill und einige tanzten Foxtrott dazu. Erebos, die Dunkelheit, kommt vor Aither, dem Licht – die Nacht Nyx vor dem Tag Hemera. Der Tag und das Licht sind bemerkenswerterweise Kinder der Finsternis und der Nacht. Wo die Nacht und die Finsternis am tiefsten, sind der Tag und das Licht am nächsten. Nyx hatte darüber hinaus Dutzende von Sprösslingen im eigentlichen Sinn, also von ungeschlechtlich entstandenen Nachkommen, wohingegen Hemera und Aither, die Personifikationen von Tag und Licht, mytho-genealogisch folgenlos geblieben sind.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 15
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Es atmet, also ist es

Im Anfang war übrigens ein einziges Chaos. Aber als es in diesem form- und gestaltlosen Chaos zu atmen begann, entstand bei jedem Ausatmen der Himmel und bei jedem Wiedereinatmen Zug um Zug die Erde. So etwa könnte es gewesen sein. Ein folgenreicher Anfang war demnach erst gemacht, als das Atmen zu atmen begonnen hatte und damit Gaia, die Erde ward, die beim Ausatmen über sich den Himmel Uranos exspirierte oder auch gebar. Als alles anfing, war es mit der Gestaltlosigkeit vorbei. Und mit dem Ende der allgemeinen Formlosigkeit begann das fortan Strukturierte sein Eigenleben zu führen, wovon sich Geschichten erzählen lassen. Der mythische, der erzählbare Kosmos, ist der Kosmos, der zu atmen begonnen hat.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 15
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Auf dem Weg zum Bahnhof

Auf dem Weg zum Bahnhof wackelte unlängst vor mir so ein göttliches kleines Menschlein einher. Es bewegte sich tendenziell in dieselbe Richtung wie ich. Denn so etwas wie Richtung scheint es zunächst bei allem Eifer des anfänglichen Strebens nur als vage Orientierung zu geben. Hinter ihm schritt achtsam lenkend eine andere Mama Maia. Noch so ein Hermes, dachte ich, als ich das Blut von seinen, des Menschleins Händen tropfen sah. Wo mag er seine Lyra gelassen haben? Hat er sie schon an seinen großen, wenn auch nur halben Bruder Apollon als musisches Entgelt für die getöteten Rinder überwiesen? Von denen weit und breit nichts zu sehen war. Nur zwei Bullen in einem Streifenwagen fuhren vorbei. Uns entgegen eilte Papa Zeus, den Blick stur geradeaus gerichtet. Für dieses Mal hatte er sich in einen Hochgeschwindigkeits-Biker in voller Straßenkampf-Montur verwandelt. Gehweg hieß für ihn nur: geh weg! Und er kannte weder Hermes noch Maia. Erkennen wollte er heute einzig Persephone, seine und seiner Schwester Demeter Tochter.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 13
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Im Hades zu Paris

Es war einmal eine Göttin, deren steinernes Bildnis stand auf der Insel Samos oder auf einer anderen der vielen griechischen Inseln. Vielleicht auch in Syrakusai auf Sizilien oder irgendwo in Kleinasien. Und wenn die Ortsansässigen in Gleichnissen sprachen, dann wurde regelmäßig ihr Name genannt. Heute sieht sie sich in Gestalt ihres in Marmor gehauenen Ebenbildes in die Katakomben des Pariser Louvre versetzt. Sie steht dort seit einer musealen Ewigkeit in einer Reihe mit anderen Göttinnen und Halbgöttern. Jeder kennt hier jede, meist ist man miteinander verwandt, viele verband einst eine innige Feindschaft, die hier aber keine Rolle mehr spielt. Denn sie alle treten nur noch in einer einzigen Rolle auf, nämlich in der des historischen Kulturguts, das darauf wartet, restauriert oder ausgeliehen oder exhibiert zu werden. Missbrauch folgt auf Missbrauch. Es geht ihnen im Museum nicht viel anders als den Tieren der afrikanischen, arktischen oder sonst einer Wildnis in den Exponat-Gehegen der sogenannten Zoologischen Gärten. Freiheit, Ansehen, Anbetung und Würde – das war gestern. Heute ist Kultur.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 13
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