Von Odysseus weiß man nicht selten nicht viel mehr, als dass er zehn Jahre im Trojanischen Krieg war und dann noch einmal zehn Jahre gebraucht hat, um den Heimweg nach Ithaka zu finden und dort unter den Bewerbern um seine Nachfolge am Tisch und im Bett von Penelope ein Blutbad anzurichten.
Dass der Krieg zehn Jahre gedauert hat, daran sind die Troer schuld, die die schöne Helena nicht kampflos heraus- oder, wie Menelaos es sah, zurückgeben wollten. Für die schier endlos lange Heimreise macht man, selbst wenn man sie nicht namentlich kennt, automatisch die Kikonen, Lotophagen, Kyklopen, Laistrygonen, Sirenen und Phaiaken verantwortlich, mit denen es Odysseus und seine Gefährten auf die eine oder andere Weise zu tun bekamen. In Wahrheit, falls man das gewichtige Wort in diesem Zusammenhang verwenden darf, sind es aber erst Kirke und dann vor allem Kalypso gewesen, die dafür sorgten, dass aus einer ebenso abwechslungs- wie verlustreichen Tour de Méditerranée (theoretisch zu bewältigen in mehreren Etappen von jeweils zwei bis drei Monaten Dauer) jene Grand Tour wurde, die, von Homer erzählt, als „Odyssee“ bis vor kurzem zum Kernbestand des abendländischen Kulturguts gehörte.
Bei der zauberhaften Kirke verbrachte Odysseus zwar nur, wie er später zu Penelope sagte, „ein paar Tage oder Wochen“ (es waren genaugenommen zwölf Monate), doch blieb nach dieser ausgedehnten Rast auf der Klage-Insel Aiaia dort ein Sohn zurück, der den Namen Telegonos erhielt. Von dem namentlich „in der Ferne Geborenen“ und in ihr Zurückgelassenen wurde Odysseus Jahre später auf schicksalhafte Weise eingeholt. Über die sieben mal zwölf Monate bei Kalypso, der „Verborgenen“, dagegen schweigt des Sängers Höflichkeit. Homer lässt Odysseus nur wortkarg resümieren: „Sieben Jahre blieb ich bei ihr, und netzte mit Tränen / Stets die ambrosischen Kleider, die mir Kalypso geschenket.“ Dass der Ärmste der Armen die tränennassen ambrosischen, also eigentlich nur von Unsterblichen zu tragenden Kleider niemals ausgezogen hat, ist nicht anzunehmen. Denn auch aus dieser Begegnung gingen zwei bis sechs Kinder hervor, deren Namen nicht überliefert sind.
Man hat von alledem dieses und jenes irgendwann und -wo einmal gehört oder gelesen. Wer aber kennt schon den alt gewordenen Odysseus, wer weiß schon, wie Odysseus gestorben ist? Auch nach seiner für nicht wenige tödlichen Rückkehr zu Penelope und seinem Sohn Telemachos fand der Kriegsveteran keine Ruhe. Vom Seher Teiresias stammte der Rat, Odysseus solle mit einem Ruder unterm Arm oder über der Schulter so lange ins Landesinnere wandern, bis er in eine Gegend komme, wo man ihn stirnrunzelnd frage, was das denn für ein Brett sei, das er da mit sich herumschleppe. Dort solle er Halt machen, das Ruder in den Boden rammen und, von der pathologischen inneren Unruhe befreit, wieder nach Hause zurück gehen.
Der nicht der Ataraxie, also der epikureischen Seelenruhe fähige Wanderer tat, wie Teiresias ihm geraten hatte. Alles ging reibungslos vonstatten, bis Odysseus sich auf den Nachhauseweg machte. Im allgemeinen kommt einem der Hinweg länger vor als der Rückweg. Bei Odysseus verhielt es sich umgekehrt, ganz einfach deshalb, weil er auch für diese Rückreise wesentlich länger brauchte als für die Anreise. Dieses Mal war es eine schöne Witwe, bei und in der er hängenblieb. Erst Kirke, dann Kalypso, nun eine Königin namens Kallidike. Eine Dynastie wollte sie begründen – und en passant wurde Odysseus zu deren Stammvater.
Schließlich aber kam jener Tag, an dem der nach Ithaka Zurückgekehrte barfuß am Strand spazieren ging, dabei wiederholt aufs offene Meer hinaus sah und über die wirklich wichtigen Dinge nachdachte. Hat das Epos als literarische Form eine Zukunft? Ist die Lyra dazu in der Lage, den neuen musikalischen Herausforderungen gerecht zu werden? Wo er den Chef finde, hörte er plötzlich jemanden fragen. Wer das wissen wolle, fragte Odysseus zurück. Telegonos, antwortete Telegonos. Der Chef heißt bei uns nicht Chef, sondern König des Staatswesens, sagte Odysseus, und sowohl der König als auch l’état – c’est moi. Und ich bin die Lieblingstochter von Poseidon, höhnte der junge Angeber und stellte sich dem barfüßigen Ruheständler breitbeinig in den Weg.
Ja, er komme von der Insel Aiaia und er sei der Sohn der Kirke. Und mit der Speerspitze habe er den nunmehr Toten nur aus Versehen geritzt, sagte Telegonos später aus. Und dass das Gift des Stachelrochens, das sich daran befunden habe, schon in geringer Konzentration tödlich wirke, wundere ihn. Aber ihr Ehemann war ja nicht mehr der Jüngste, sagte er zu Penelope, und dass er mein Vater war, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.
Als ihm einige Jahre zuvor von Teiresias der Rat mit dem Ruder gegeben worden war, hatte Odysseus, als er sich schon zum Gehen wandte, aus seherischem Munde ganz nebenbei noch erfahren, sein Tod werde sanft sein und er werde aus dem Meer kommen.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 39 Weitere Leseproben hier
Wie schon gesagt: mater semper certa est, pater numquam. Bei Odysseus ist man sich ziemlich sicher, dass seine Mutter die Tochter des Meisterdiebs Autolykos war, der sein Handwerk von keinem Geringeren als seinem Vater Hermes gelernt oder geerbt oder beides hatte. Hermes zeigte seinem Sohn außerdem einen Trick, wie man das Diebesgut umstandslos in etwas anderes verwandeln kann, um so beim Klauen nicht erwischt oder doch wenigstens nicht des Diebstahls überführt zu werden. Das heißt, immer wenn Autolykos die von ihm geklauten Äpfel auf der Flucht vor dem Apfelbaum-Besitzer in Birnen verwandeln musste, konnte er von Glück sagen, wenn er eigentlich Birnen hatte klauen wollen und nur deshalb Äpfel geklaut hatte, weil er prima vista weder Äpfel von Birnen noch Apfelbäume von Birnbäumen unterscheiden konnte. Aber zurück zu Odysseus.
Autolykos‘ Tochter Antikleia war also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Mutter von Odysseus, in welchen damit mütterlicherseits die Gerissenheits-Gene zweier Trickbetrüger eingeboren waren. Was er von väterlicher Seite mitbekommen hat, könnte man nur dann mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit sagen, wenn man certa wüsste, wer sein Vater war.
Homer nennt als Odysseus‘ Vater Laertes, König von Ithaka, Sohn des Arkeisios und damit nach einer Sage Enkel von Zeus. Odysseus wäre dann einerseits durch seinen Vater Laertes ein Urenkel von Zeus, durch seine Mutter Antikleia aber ein Ururenkel desselben Zeus – falls Zeus jemals ein und derselbe gewesen ist. Vielleicht ist dies, nebenbei bemerkt, einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Zeus und dem monolithischen Gott des Alten Testaments. Während Jahwe von sich sagen konnte und wollte: Ich bin, der ich bin, sagte Zeus ein ums andere Mal: Je suis un autre! – ich bin, der ich nicht bin. Und ward Schwan, Schlange, Stier, Adler und weiß Gott, was sonst noch alles.
Alternativ zu Laertes käme als Vater von Odysseus auch noch Sisyphos in Betracht. Es gab und gibt nämlich Gerüchte, dass Antikleias diebischer Vater Autolykos bei dem Versuch, Sisyphos‘ Vieh zu stehlen, kläglich gescheitert ist und sich in einem Anflug von Reue dazu hinreißen ließ, dem nur beinahe Bestohlenen zur moralischen Wiedergutmachung und getreu dem Motto, einmal sei keinmal, seine schon mit Laertes verlobte Tochter für eine Nacht zur freien Verfügung zu überlassen. Einmal wäre dann aber nicht keinmal, sondern einmal zu viel gewesen.
Nicht diese eine, ebenso ephemere wie folgenreiche Odysseus-Nacht mit Antikleia, falls es sie denn tatsächlich gegeben hat, ist nach Albert Camus der Grund, weshalb wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen. Sondern die Sache mit dem bis in alle Ewigkeit den Berg hinauf zu rollenden Stein. Aber das ist nun wirklich eine ganz andere Geschichte.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 38 Weitere Leseproben hier
Dem möglicherweise demnächst in London erscheinenden Edel-Porno-Magazin LONDON PORN habe ich gestern Vormittag in Gedanken ein telefonisch geführtes Interview zur anstehenden Übersetzung meines Romans „Passionsspiele“ („The Passion Play“) gegeben. Die Interviewerin hat mir die Fragen auf Englisch gestellt und ich habe sie auf Deutsch beantwortet. Hier eine Passage aus der Transkription der gedanklichen Aufzeichnung des mental geführten Telefonats:
LP: You seem to have a rather, if I may say so, dirty imagination, which you then project onto protagonists like your Dorothea Traumann in the Oberammergau novel „Passionsspiele“ – „The Passion Play“ -, which was published in German a few weeks ago.
LR: In den „Passionsspielen“ ist Dorothea Traumann nicht die Protagonistin, sondern eher eine Nebenfigur, allerdings eine mit guter Figur und recht markanten, ins Pornographische spielenden Zügen, das haben Sie richtig erkannt. Mit meiner Fantasie im üblichen Sinn hat das nicht viel zu tun. Das ist rein sprachlich und erst im Nachhinein, wenn überhaupt, mit bildlichen Vorstellungen verbunden.
LP: Could you explain this in more detail?
LR: Nach einer Impuls gebenden Anfangsformulierung, irgendeiner auf mich animierend oder sagen wir ruhig aufreizend wirkenden Wortfolge – manchmal sind es auch zwei, drei Sätze – ergibt sich das, was Sie meine dirty imagination, meine schmutzige Fantasie nennen, während ich weiterschreibe wie von selbst. Und wenn ich dann mal drin bin, komme ich ganz von selbst vom Stößchen aufs Höschen aufs Schößchen und so weiter und so fort. Sie verstehen was ich meine.
LP: Not quite yet. Would you give our readers an example?
LR: Gerne. Da gibt es doch diese Szene, in der Dorothea nach mehr als zwei Jahren den Protagonisten Tobias Trost wiedertrifft. Sie übernachten dann zusammen in einem Hotel in Garmisch-Partenkirchen. Nachdem sie bei ihrer Wiederbegegnung zunächst nur verbal aktiv gewesen sind, geht es nun auch körperlich zur Sache.
LP: I notice that your speech takes on a sexual tone as you try to explain to me how sex comes into play in your novels.
LR: Ja, Sex fängt nicht dort an, wo die Sprache aufhört, sondern wo die Sprache erotisch zu schwingen beginnt. Bei mir ist das jedenfalls so.
LP: Also in your private life or only in the novel?
LR: Wenn ich jetzt sagen würde: „Sie könnten ja als horizontal investigative Journalistin einmal versuchen, es herauszufinden“ – nicht besonders einfallsreich, ich geb’s zu -, würde ich sehr wahrscheinlich nicht mit Ihnen im Bett, aber vielleicht in meinem nächsten Roman landen. Ist Ihre Frage damit beantwortet?
LP: What you’re saying is: What works in a novel doesn’t necessarily work in real life? Why not? Because this kind of contact requires a correspondingly verbally accessible counterpart?
LR: Erstens das, und zweitens bin ich nicht der Kairos-Typ, dem im entscheidenden Moment das passende Zauberwort immer schon auf der Zunge gelegen hat, sondern ich bin der, dem erst im Nachhinein einfällt, was er hätte sagen wollen, sollen, können, müssen, dürfen. Deshalb bin ich wohl auch Schriftsteller und nicht Felix Krull oder sonst ein Hochstapler oder Heiratsschwindler geworden.
LP: Please allow me to not entirely believe you. But I interrupted you earlier. You wanted to explain how, in a scene from „The Passion Play,“ Dorothea chatted Tobias Trost up into her hotel bed, if I may put it that way – in German you might say: wie sie Tobias in ihr Hotelbett gequatscht hat.
LR: Yes, you may put it that way – aber es stimmt nicht ganz. Ich wollte erläutern, wie bei mir erotisch-sexuell schwingende Sequenzen entstehen. Die Hotelbett-Szene beginnt so, ich zitiere aus dem Roman Seite neunundsechzig:
„Bei mir war es jedenfalls Liebe auf den ersten, äh, fängt mit F an“, sagte sie. „Und als du dann plötzlich verschwunden warst, fragte ich mich, was schief gelaufen war. Hätte ich mich verbal vielleicht ein wenig zurückhaltender daneben benehmen sollen? Dabei hatte ich das Schatzkästchen mit den anstößigsten Stoßseufzern – bei jedem Stoß ein Seufzer – noch gar nicht aufgemacht.“ Dorothea griff zum Telefonhörer und bestellte beim Zimmerservice eine Flasche Sekt und zwei Gläser.
Die Initialzündung ging in diesem Fall von der bekannten Redewendung „Liebe auf den ersten Blick“ aus, was ich in „Liebe auf den ersten“ – und dann kommt das gleichfalls ziemlich bekannte F-Wort – umdichtete. Diese Verballhornung einer idiomatischen Wendung wollte ich schon immer mal irgendwo einbauen. Auf dem damit sprachlich eingeschlagenen Weg lag das mit den Stoßseufzern quasi schon am Wegesrand bereit und wartete nur darauf, von mir entdeckt und eingebaut zu werden. Ich bin gespannt, welche Lösung man für dieses Übersetzungsproblem bei der in Arbeit befindlichen englischen Fassung finden wird – der englische Titel „The Passion Play“ gefällt mir fast noch besser als „Passionsspiele“. Wird wohl ein Fall von „lost in translation“ werden, einer meiner Lieblingsfilme übrigens.
LP: Do you know the medical term spermatorrhea?
LR: Ja, den kenne ich. Wenn Sie so wollen, könnte man bei mir eine sporadisch auftretende verbale Spermatorrhoe diagnostizieren.
Dieses Interview erschien zuerst am 5. Juni 2025 auf meinem Telegram-Work-in-Progress-Kanal t.me/LotharRumold.
War es für eine Abtreibung schon zu spät gewesen? Nach dem Dafürhalten nicht weniger Freunde der Menschheit als Idee sollte es für einen Schwangerschaftsabbruch nie zu spät und selten zu früh sein – letzteres etwa dann, wenn die Zeugung noch gar nicht stattgefunden hat. Die Geschichte von der Nicht-Abtreibung des Paris scheint den Frist-Maximalisten recht zu geben. Denn wäre der Prinz von Troja gar nicht erst zur Welt gekommen, hätte es keinen Trojanischen Krieg gegeben. Oder doch nicht mit dem mythologisch verbürgten Personal an dem von Homer angegebenen Ort. Der Trojanische Krieg hätte vielleicht in Byzantion stattgefunden und nicht zehn, sondern nur fünf Jahre gedauert. Und womöglich wäre die Zahl der Opfer und Kriegsversehrten um die Hälfte niedriger, vielleicht aber auch doppelt so hoch gewesen.
Als Hekuba oder das Hekable, wie sie von ihren ins Schwäbische ausgewanderten Verwandten liebevoll genannt wurde, wieder einmal schwanger war, hatte sie einen Traum, in dem sie, die Königin von Troja, ein brennendes Stück Holz gebar, aus dem schlangenförmige Flammen züngelten. Zeus weiß warum – ihr medial begabter Stiefsohn Aisakos riet der aktuellen Frau seines Vaters Priamos nicht zur Abtreibung, sondern zur Tötung des Kindes gleich nach der Geburt. Sonst werde sein Halbbruder mitursächlich verantwortlich sein für die Zerstörung Trojas.
Hekuba übergab das Neugeborene „schweren Herzens“, wie es im nicht-öffentlichen Teil der Akten des Stadtarchivs hieß, einem Sklaven ihres Vertrauens, der es im Wald entsorgen sollte. Denn an Nachwuchs herrschte kein Mangel – der noch namenlose Gefährder hatte oder würde noch haben um die fünfzig Geschwister und Halbgeschwister. Wahrscheinlich hatte die Wöchnerin sich nicht klar genug ausgedrückt, denn der Säugling landete nicht tot oder noch lebendig im Gebüsch, sondern in den Händen des Waidmanns Agelaos beziehungsweise an der Brust von dessen Gemahlin, einer Bärin von einer Frau. Sie war es auch, die Paris den Namen Paris gab.
Der Rest ist – nicht nur, aber auch – Ilias. Der Milch-Sohn der Bärin wuchs heran und fand nach einer ersten, nicht wirklich standesgemäßen Ehe mit der Nymphe Oinone und nach einem Um-einen-Stier-Kampf in den Schoß seiner ursprünglichen königlichen Herkunftsfamilie zurück; kürte Aphrodite zur schönsten Göttin des Olymp; begegnete der mit Menelaos verheirateten Helena, die mit ihm nach Troja durchbrannte; verteidigte die Stadt zehn Jahre lang recht und schlecht – einige sagten: ein wenig lustlos – gegen Helenas Verfolger und erklärte Rückeroberer; wurde von einem vergifteten Pfeil getroffen und starb wegen unterlassener Hilfeleistung durch seine erste Frau Oinone.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 37 Weitere Leseproben hier
Bevor Zeus Okyroë wegen unerlaubter Wahrsagerei in eine Stute – eigentlich müsste man sagen: Voll-Stute – verwandelte und sie den Namen Hippo erhielt, war sie eine Art Kentaurin, also eine hals- und kopflose Stute mit dem Oberkörper einer Frau. Eine Kentaurin war Okyroë alias Hippo allerdings nur der Gestalt nach, weil diese Einschränkung auch für ihren Vater Chiron oder Cheiron galt, der seine genealogisch bedingte morphologische Besonderheit an seine Tochter weitergegeben hatte. Als veritabler und nicht nur Pseudo-Kentaur hätte Cheiron seinen Stammbaum auf den Wolken-Stecher Ixion zurückführen können müssen, dem es in angetrunkenem Zustand gelungen war, eine Nephele (das heißt „Wolke“), die er für Hera hielt, zu schwängern. Dabei entstand Kentauros und aus Kentauros‘ Verbindung mit diversen Stuten gingen dann die eigentlichen oder Original-Kentauren hervor.
Die Hand (altgriechisch „cheiro“) der Hände aber hatte mit alledem nichts zu tun. Denn Cheiron war ein Sohn des Kronos, das heißt ein Enkel von Gaia und Uranos (also gewissermaßen ein Urenkel des Chaos) und als solcher ein Halbbruder von Zeus. Die Kentauromorphie verdankte Cheiron dem Umstand, dass sein Erzeuger Kronos sich weder von seiner Gemahlin Rhea noch von sonst jemandem beim Fremdgehen erwischen lassen wollte und Cheirons Mutter Philyra daher in Pferdegestalt erst den Hof und dann den Hengst machte. Neun, zehn oder elf Monate später mit dem Resultat des im wörtlichen Sinn abartigen Seitensprungs konfrontiert, wollte Philyra fortan lieber am Brunnen vor dem Tore eine Linde (Tilia) als die Mutter dieser – in ihren Augen – Missgeburt sein.
Wie sich später herausstellte, war Philyras Entscheidung für die Metamorphose – also für eine Art postnatal-symbolische Abtreibung – vermutlich voreilig gewesen. Denn Cheiron erwies sich als äußerst patenter Mann, den sie gelegentlich Pferd nannten, und auf den so ziemlich jede andere Mutter stolz gewesen wäre. Spätestens beim Lesen des Wikipedia-Eintrags ihres Sohns hätte Philyra ihre Tiliafizierung bedauert: „Er ist ein Freund der Götter, Erzieher der Heroen Jason, Aktaion, Aristaios, Achilleus, Kephalos, Meilanion, Nestor, Amphiaraos, Peleus, Telamon, Meleagros, Theseus, Hippolytos, Palamedes, Menestheus, Odysseus, Diomedes, Kastor, Polydeukes, Machaon, Podaleirios, Antilochos und Aineias, besitzt Kenntnisse in der Arzneikunde, galt gelegentlich als Begründer der Chirurgie und übernahm die Ausbildung des Asklepios zum Arzt.“
Der im unpräzisen Sinn von Vollständigkeit Vollständigkeit halber soll nicht ungesagt bleiben, dass Cheirons Tod im unpräzisen Sinn von tragisch tragisch, nämlich ein Kollateralschaden war. Ein vergifteter Pfeil des Herakles traf ihn am Knie, nachdem der kraftstrotzende Held sich beim Einfangen des Erymanthischen Ebers mit irgendwelchen Original-Kentauren angelegt hatte. Das ist noch nicht die ganze Geschichte, muss für hier und jetzt aber als leidvolles Ende vom Lied genügen. Mythograph sein heißt, vom Eckchen aufs Steckchen und vom Hölzchen aufs Stölzchen zu kommen und eigentlich kein Ende finden zu können.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 35 Weitere Leseproben hier