Im Dialog mit Michael Schneider (1956-2019)

Der Dialog zwischen mir (LR) und dem (damals noch) in Karlsruhe lebenden Maler Michael Schneider (MS >Homepage) begann im Frühjahr 2017 als E-Mail-Gespräch über eine mögliche gemeinsame Ausstellung – wann und wo auch immer. Der sachliche Informations- und Meinungsaustausch weitete sich unversehens zu einem Dialog über Gott und die Welt, also über alles und nichts – unter besonderer Berücksichtigung ästhetischer und künstlerischer Aspekte. Wir beendeten unser Gespräch ein knappes Jahr später im Februar 2018. Michael Schneider verstarb im September 2019 im Alter von 63 Jahren.

>Juni 2017 | >Juli 2017 | >August 2017 | >September 2017 | >Oktober 2017 | >November 2017 | >Dezember 2017 | >Januar 2018 | >Februar 2018

>Seitenende

Juni 2017

LR:
Ich studiere gerade einen Text-und-Bild-Band von David Hockney und Martin Gayford: A History of Pictures, das Buch ist im letzten Jahr herausgekommen (→ Youtube). Gayford ist Kunstkritiker, Hockney ist, wie wir wissen, Maler, Zeichner, Bühnenbildner und Fotograf. Gayford sagt darin, schon im 15. und 16. Jahrhundert, also lange vor der Erfindung der Fotografie, habe man nach einer Maschine zum Bildermachen gesucht. Eine dieser Maschinen war die Camera obscura, die dann zum Fotoapparat weiterentwickelt wurde. Eine andere Bilder-Maschine ist auf einem Holzschnitt (1525) von Albrecht Dürer zu sehen. Links sieht man eine halbnackte Frau, rechts den Künstler, der sie zeichnet. Zwischen den beiden steht ein Rahmen mit einem Raster, das es dem Zeichner ermöglicht, eine perspektivische und wohlproportionierte Zeichnung von der nach damaligen Vorstellungen Wohlproportionierten anzufertigen. Raster-Rahmen, Camera obscura, Fotoapparat – mein Schwager hat als Professor für Informatik vor ein paar Jahren einen Mal-Roboter namens e-David mitentwickelt (→ Youtube). Bei der Suche nach immer wieder neuen Maschinen zum Bildermachen scheint kein Ende in Sicht zu sein. Welche Maschinen verwendest Du eigentlich zum Bildermachen?

MS:
Die Antwort, ich rede jetzt vom Malen, wäre (wenn ich weglasse, was bereits im Material und Werkzeug steckt): In der Art der Hilfsmittel Dürers benutze ich wenig. Beim Übertragen von Skizzen sind Quadratraster oder Fotokopien von Umrisszeichnungen hilfreich: so ging ich vor bei Entwürfen für eine Wandmalerei, die nicht zustande kam; ich hätte schließlich 1:1 Kartons gemacht. Einen Beamer habe ich nicht. Ein Lineal hing auch im Atelier Caspar David Friedrichs, wenn man einem Bild des Malers Kersting glauben darf. Ich würde also sagen: so wenig „Maschinen“ wie möglich. Hier nehme ich mich selbst (L’Homme Machine vom Franzosen La Mettrie) mal aus. Das Einfachste ist immer das Beste. Zu Dürers erwähnter Vorrichtung (er hatte mehrere) und überhaupt zur Perspektive hat sich einst der Russe Pavel Florenski sehr kritisch geäußert, aber das führt woanders hin. Den Roboter finde ich Klasse – wie eine zeitgemäße Ergänzung zum damals (70er Jahre ?) malenden Affen. Das kann noch sehr perfekt werden. David Hockney kenne ich vielleicht nicht gut genug. Ich denke Fotografie und Projektor spielen in seiner Generation eine große Rolle? Sehr entspannt wie die beiden sich unterhalten. Fragwürdig scheint mir der Ausdruck „Bildermachen“, ist er nicht sehr allgemein?

LR:
Wir Briefmarkensammler neigen naturgemäß dazu, nur Briefmarken für Bilder zu halten. In ihrem Vorwort zu A History of Pictures bekennen sich die Autoren Hockney und Gayford zu einem extrem allgemeinen und undifferenzierten Interesse an jeder Art von bildlich-zweidimensionaler Darstellung der dreidimensionalen Welt. Und wenn der mittlerweile beinahe achtzigjährige David Hockney so ein Bekenntnis im Jahr 2016 als nach wie vor aktiver Maler ablegt, dann kann man dieses Bekenntnis, wie ich finde, nicht kunsthistorisch relativieren und als idiosynkratischen Defekt seiner Generation abtun. Zumal Hockney meint, nachgewiesen zu haben, dass es Kontinuitäten und Wechselwirkungen zwischen Malerei, Fotografie und Film immer schon gegeben hat – und zwar pikanterweise schon Jahrhunderte vor dem „official birth date of photography, 1839“.
xxxxxDie Feststellung, dass sich ein bildender Künstler, welcher Generation und mit welcher frei gewählten Spezialisierung auch immer, heute als Bildermacher unter Bildermachern wahrnehmen muss, kommt mir trivial vor. Trivial und äußerst beunruhigend. Denn ich sehe mich mit meinen idyllischen Bleistiftskizzen nun plötzlich in Konkurrenz mit Hyper-Mega-Bild-Ereignissen wie dem Blockbuster Transformers 3, den ich gestern Abend (medial absolut inkompatibel) auf unserem Röhrenfernseher mit kollegialem Respekt vor der bildschöpferischen Leistung gesehen habe. Ich suche seither nervös nach der Steinschleuder, mit der wir oder unser gemeinsamer Freund e-David diesen Goliath zu Fall bringen können.

MS:
Ich meine, Bildermachen klingt im Deutschen so naiv oder unschuldig. (Wie ist es englisch? – war neulich im Konzert, bei einem Stück Elgars war im Chortext ein vergleichbarer Ausdruck „music makers“ von ihm gebraucht.) Die Pop-Art scheint doch immerhin sowas (angenehm) Unbeschwertes gepflegt zu haben. Nach all den vorangegangenen Öl-Krawall-Schinken mehr Distanz, Ratio, Beobachtung etc. Und da gehört der zwanglose Umgang mit Technik dazu. Bald darauf aber hat Baselitz wieder mit Fingern gemalt und Lüpertz sagte, er habe gar keinen Fotoapparat.
xxxxxDass wir in einer quantifizierten Welt (wenn ich sie so nennen darf) Bildermacher unter Bildermachern sind, hängt wohl mit eben dem Weltbild zusammen. Dieses scheint sich durchzusetzen und kommt auch angeblich so herrlich moralinfrei daher.
xxxxxRaffinierte Illusionstechnik gab’s m. E. schon in der Antike. Und Perfektion: im Barock gab’s Leute, die haben das komplette Vaterunser auf einen Kirschkern geschnitzt. Winkelmann fand den komplizierten Lorbeer Berninis bei Apoll und Daphne nicht erstaunungswürdig.
xxxxxDie Steinschleuder hast Du schon: Franz Marc hatte auch nur einen Bleistift an der Front. Auf dem historischen David ruhte allerdings der Geist des Herrn … .

LR:
Ich beneide Dich um Deine Fähigkeit, Dich unbeeindruckt zu zeigen. Der Ökonom und Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn hat am letzten Wochenende hier in Karlsruhe in seinem Vortrag im Rahmen eines Peter-Sloterdijk-wird-siebzig-Symposiums gesagt: „Es gilt aber auch, dass wir alle jeden Tag versuchen müssen, Sieger zu bleiben und nicht verrückt zu werden.“ Das ist also nicht allein mein Eindruck, habe ich gedacht.
xxxxxDu hast Franz Marc mit dem Bleistift im Ersten Weltkrieg erwähnt. Eine sympathische Vorstellung, obwohl man weiß, wie die Sache für ihn ausgegangen ist. Und ich fürchte, dass auch wir, nur mit einem Bleistift bewaffnet, heute im jederzeit und überall tobenden Krieg der Bilder auf verlorenem Posten stehen werden. Wer haut wen womit um – das ist doch eine der Sein-oder-Nichtsein-Fragen, um die es beim professionellen Bildermachen geht. Die Zahl derer, die so strukturiert sind, dass sie wie Du und ich schon von einer Bleistiftzeichnung umgehauen werden können, nimmt (absolut und relativ gesehen) ständig ab. Das meine ich mit „auf verlorenem Posten stehen“. Das sind objektive Umwelt- und damit Arbeitsbedingungen, gegen die wir weder mit dem Leugnen der Tatsachen, noch mit moralischen Appellen etwas ausrichten können. Ich will es auch gar nicht. Denn ich gebe zu, dass ich den Krieg der Bilder packend finde, auch wenn ich als Kombattant eher zu denen gehöre, die nicht nur mit der Steinschleuder kämpfen, sondern dann auch noch ihr Ziel verfehlen.
xxxxxEines möchte ich noch anfügen. Dein Verdacht gegen mein deutsches Wort vom Bildermachen als etwas zu naiv und harmlos klingend für den Kontext, in dem es verwendet wird, war intuitiv richtig. Ich wüsste zwar nicht, wie man to make pictures anders übersetzen sollte als mit Bilder machen (substantiviert: das Bildermachen), doch ist im Englischen der Maker (groß geschrieben) eben auch der Schöpfergott, den wir im Deutschen normalerweise nicht als den Ersten Macher bezeichnen würden. (Wobei man ja bei der um sich greifenden anti-vertikal-nivellistischen Einer-von-uns-Mentalität in den christlichen Kirchen auf alles gefasst sein muss.)

MS:
Deine letzte Klammer ist leider allzu wahr, man braucht eine gewaltige Opferbereitschaft wenn man dort hineingeht!
xxxxxAls einzelner Künstler gegen die Kunstmarkt-Giganten und den Goliath der Kulturindustrie: die Aussichten sind in der Tat schlecht. Dass diese beiden uns die Interessenten wegnehmen, glaube ich allerdings nicht. Zwar nehmen künstlerische Bildung und das Gespür für die tradierten bildnerischen Werte meines Erachtens ab, aber vielleicht mehr bei den Leiter*innen mancher avantgardistischer Kunstvereine als bei unseren Kunstfreunden.
xxxxxDie Wörter: Es gibt doch entsprechend den verharmlosenden Begriff des „Autobauers“, den ich in den Nachrichten erst etwa ab den Ereignissen der Finanzkrise hörte. Riesige Konzerne wurden genannt, als hätten sie eine Werkstatt im Hinterhof. Na ja, sie fingen oftmals so an. Von Dosso Dossi gibt es ein schönes Bild des Schöpfergottes: Jupiter als Maler an der Staffelei kreiert Schmetterlinge … (→ zum Bild)
xxxxxIch gebe zu, ich kann dieses übergreifende Wort „Bildermachen“ vielleicht trotz allem gebrauchen; wenn ich etwas künstlerisch beurteile, ist der Marktanteil nicht entscheidend. Die Zeichnung kann meistens den Blockbuster besiegen. Es ist dann ein Sieg für mich vielleicht im Sinne Heinsohns.

Juli 2017

LR:
Du hast vermutet, dass künstlerische Bildung und das Gespür für tradierte bildnerische Werte in (nicht ganz unwesentlichen) Teilen des potentiellen Publikums verlorengegangen sind. Vielleicht lohnt es sich, einmal ein paar Worte darüber zu verlieren, was unseres Erachtens unter dem Verlorengegangenen zu verstehen ist? (Verblüffenderweise habe ich am 29. Juni in meinem Web-Journal unter eine Abbildung geschrieben: „Das Neue ist das verlorengegangene Alte“.)
xxxxxIch erlebe mich derzeit als eine Art Spätheimkehrer zur Malerei, zur Zeichnerei, ja zur Kunst überhaupt, obwohl ich mich ja seit knapp dreißig Jahren mit wechselndem Enthusiasmus als Künstler verstanden habe, zwanzig Jahre lang Mitglied im Bezirksverband Bildender Künstler und zwei Jahre lang Mitinhaber einer Kunstgalerie gewesen bin. Auf diese oder jene Weise habe ich während dieser Zeit immer wieder „Kunst gemacht“ und am Kunstbetrieb teilgenommen. Du bemerkst zwischen den Zeilen die rückblickende Skepsis gegenüber meinem Tun und Lassen?
xxxxxSkeptisch bin ich vor allem wegen der naiven Ahnungslosigkeit, mit der ich mich ins Getümmel gestürzt habe. Gewiss, ich habe Adornos Ästhetik studiert und Boris Groys und andere gelesen. Und auch das, was mein Hausphilosoph Peter Sloterdijk in seiner pointierten Weise an klugen Bemerkungen über die Kunst von sich gegeben hat, ist mir nicht entgangen. Was aber aus meiner heutigen Sicht (die im übrigen wieder meiner Sicht von 1975 ähnelt – darum „Spätheimkehrer“) gefehlt hat, war die Auseinandersetzung mit der Sache selbst, sprich: mit dem, was man im Rückblick auf die letzten fünfzehn- bis dreißigtausend Jahre „Kunst“ nennt.
xxxxxMit „Auseinandersetzung“ meine ich nicht, ich hätte Kunstgeschichte studieren sollen, was sicher kein Fehler gewesen wäre. Sondern ich meine damit das praxisnahe Studium auf der handwerklichen Ebene. So wie ein Schreiner sich fragt, wie sein Konkurrent es schaffen konnte, diesen geilen Nachttisch mit Geheimfach für die geheim zu haltenden Liebesbriefe der Dame des Hauses zu schreinern, so hätte ich mich beispielsweise fragen sollen, wie es Vermeer gelingen konnte, das Muster des Teppichs bei seiner Kupplerin von 1656 so fotografisch naturgetreu ins Bild zu setzen. (→ zum Bild)
xxxxxNun gut. Nach diesem unter Umständen etwas strapaziösen Ausflug in meine merkwürdige Vergangenheit frage ich Dich ohne Umschweife: Was meinst Du, wenn Du von künstlerischer Bildung und dem Gespür für die tradierten Werte sprichst?

MS:
Die Betonung lag auf künstlerischer Bildung und tradierten bildnerischen Werten. Also bildgestalterische Fähigkeiten und entsprechendes Verständnis. Der Kunsthistoriker Klaus Lankheit, der hier in Karlsruhe an der Universität Professor war, schrieb einstens, dass an Stelle des Bild- und Gestaltungsdenkens ein unanschauliches Begriffsdenken getreten sei – seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts schon.
xxxxxGenuin künstlerische Mittel werden weniger, fachfremde nehmen zu oder werden zu solchen erklärt. Der künstlerische Sinn entschwindet auch und geht verloren, wenn Hierarchien eingeebnet werden und Ungleichwertiges gleichgestellt wird. Das kann doch gar nicht anders sein. Alles wird heute Kunst genannt … doch eine Dokumentation ist beispielsweise keine Kunst, die Knopfsammlung der Großmutter eines Künstlers auch nicht. Über modernste Formen und die jetztzeitliche Ununterscheidbarkeit von Kunst und Wirklichkeit bist Du wahrscheinlich noch viel besser informiert als ich.
xxxxxBeim Vermeer scheint der Fall zwar klar, aber die Perfektion allein ist es nicht, und fotografische Treue gewährleistet auch nichts. Doch eine ganze Reihe von Komponenten ist hervorragend gehandhabt. Thema, Motiv, Komposition, Proportion, Anordnung, Licht-Schatten, Farbigkeit, Ausarbeitung, Vortrag. Und er hat die Schönheit gekannt, denn der gute Wille allein war’s sicher nicht.
xxxxxIch habe diese Zeichnung mit dem Text von Roland Begenat von Dir. Die würde ich im Bereich „gemachte Bilder“ (und im Hinblick auf die oben genannte Reihe) wie den Vermeer der Abteilung „Kunstwerk“ zuordnen. Ich wüsste nicht welche Gegenargumente Du da vorbringen könntest.

LR:
Diese Bilder habe ich damals, vor rund 20 Jahren, mit großer Hingabe und viel Fleiß gemacht. Ich habe meine grafisch-handwerklichen Sachen, denen man ihre Herkunft aus der Holzbildhauer-Werkstatt auch im Falle der Papier-Arbeiten (von denen Du eine besitzt) deutlich ansieht, vermutlich für Kunst gehalten. Dass Du das heute auch noch so siehst, nehme ich errötend zur Kenntnis und danke für die Blumen. Den Ausdruck „Kunst“, den ich selber am liebsten nur noch in Verbindung mit „große“ verwende, würde ich gerne für Werke reservieren, vor denen ich gewissermaßen in Ehrfurcht ver- und erblasse, bei denen mir die Tränen des Berührtseins kommen. Damit will ich selbstverständlich eine rationale Analyse solcher Werke nicht ausschließen, dazu habe ich viel zu viel Freude am begrifflichen Sezieren und an den analytischen Tautologien, auf die jede Begründung der künstlerischen Qualität eines Werkes unweigerlich hinausläuft. Die Plausibilität eines Kunst-Urteils hängt doch zuerst und zuletzt davon ab, welchen Axiomen man zustimmt und welchen nicht. Die Kunst kommt aber, wenn man so will, zu uns und über uns aus einem vorregulären Raum jenseits der Axiome und Begründungen.
xxxxxDeshalb meine ich auch – und Du wirst mir da womöglich zustimmen -, dass sogar eine sogenannte Dokumentation große Kunst sein kann. Man weiß es erst, wenn man es weiß. Wir müssen uns, wie ich finde, wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen, dass alles Kunst sein kann. Dieses in unvermeidlicher Resignation zuzugestehen, heißt aber keineswegs zu sagen, alles sei Kunst.
xxxxxDas Fotografische in Vermeers Kupplerin habe ich übrigens deshalb erwähnt, weil ich gerade in der History of Pictures von Hockney und Gayford etwas darüber gelesen habe. Die Autoren vermuten, dass Vermeer eine Camera obscura verwendet hat, was den künstlerischen Wert der Bilder in keiner Weise schmälert. Du hast kurz und bündig gesagt, was dazu zu sagen ist. Vermeers Werk steht am Anfang einer Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossenen Phase der Geburt der Fotografie aus dem Geist der technologisch nachgerüsteten Malerei. Es ist sehr spannend und plausibel, was Hockney und Gayford darüber zu sagen haben und an Beispielen zeigen können.

MS:
Geburt der Fotografie aus dem Geist der technologisch nachgerüsteten Malerei – Du beschreibst es wie Nietzsche und Wagner und es klingt sehr interessant. Was sagen sie denn darüber? Die Camera obscura bei Vermeers Bild hätte ich auch vermutet. Dali, ein großer Bewunderer Vermeers, behauptete bekanntlich, die Fotografie habe die Malerei gerettet und benutzte sie (und andere Techniken, etwa Stereoskopie) ausgiebig und auch erfolgreich, wie ich meine. Sein Bild Thunfischfang etwa ist großartig und löste bei mir, als ich ein junger Mensch war, Gefühle aus wie Du sie oben nennst, vielleicht mehr solche der Begeisterung. Leider sah ich nie das Original, obwohl es in den frühen 1970ern, glaub‘ ich, in Baden-Baden ausgestellt war. In kunstakademischen Kreisen durfte man aber den Namen Dali nicht nennen, wie ich bald merkte. Er galt wohl als exaltiert, barock und theatralisch. Mein eigener Professor war sehr skeptisch, als ich eine Zeitlang die reine Lehre der flächigen Malerei verließ und das, was man „Löcher“ nannte, dazu nutzen wollte, eine räumliche Schichtung zu erzielen.
xxxxxDas Verlassen des statischen Bilds ist auch so ein Dauerthema. Es hat mal der Österreicher Curt Stenvert (er war mal, vor meiner Zeit, mit Lehrauftrag an der Karlsruher Akademie – ein interessanter Objektkünstler) die funktionelle Malerei des 21. Jahrhunderts propagiert: „Prozessillusion statt Raumillusion“, hört sich originell an! Man kehrt aber bald zur reinen Lehre zurück, ich jedenfalls, denn alle Effekthascherei ist unbefriedigend. Übrigens werden bei 3D-Filmen die Effekte nach einer Weile zurückgefahren (denn sie werden durch den Betrachter nivelliert), um sie später erneut wieder gezielt einsetzen zu können.
xxxxxKunst als aus dem vorregulären Raum kommend, ja. „Große“ Kunst (das klingt nach Adorno?), ist es nicht ein Versuch, ein berechtigter, den Begriff zu retten? Kunst ist ein Qualitätsbegriff scheint mir. Ich nehme ihn hingegen oft altmodisch als Sammelbegriff der verschiedenen Künste wie Malerei, Bildhauerei, Musik usw. Weswegen ich Spurensicherung und Dokumentation und manches andere erstmal nicht dazuzählte. Auch der „neue Kuratorentyp“ geriert sich heute als Künstler, wie Harald Klingelhöller beim Akademiejubiläum vor mehreren Jahren so ähnlich in seiner Rede bemerkte.
xxxxxJetzt hab ich bei Adorno nachgeschlagen: „Die von Benjamin urgierte Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und dem Dokument bleibt soweit triftig, wie sie Gebilde abweist, die nicht in sich vom Formgesetz determiniert sind; manche sind es objektiv, auch wenn sie gar nicht als Kunst auftreten.“ (Ästhetische Theorie, S.272)
xxxxxIch finde, manche künstlerischen Zeitgenossen sehen in der Buchhalterei wohl ein Formgesetz und treten von vornherein als Kunst damit auf. Der Begriff „Kunstwerk“ statt „Kunst“ ist mir manchmal lieber. Wie erkenne ich ein Werk als Kunst oder Kunstwerk? Und gar als großes? Die physische Reaktion beschreibst Du selbst oben, das ist vor aller Begrifflichkeit. Es werden Dinge angestimmt und angeschlagen in einem selbst; trotzdem mussten sie auch einst von außen genährt worden sein, weswegen die Tradition wichtig ist. Große Künstler geben weiter, was sie selbst empfangen haben (theologisch gesagt: „Accepi quod et tradidi vobis“: „Ich habe euch überliefert, was ich selbst empfangen habe“); der eigene Anteil kann manchmal gering dabei sein.
xxxxxDass der Künstler im Prinzip immer alles zum ersten Mal macht, worin er sich vom Handwerker unterscheidet, der alles perfektioniert, ist für mich kein Widerspruch. Der Künstler fügt selbstverständlich Neues zum Alten, aber das Ziel aller Künste, das Kunstwerk, ist von Anfang an da.

LR:
Ich bin unverfroren genug, mir diese Gelegenheit, mich selbst zu zitieren, nicht entgehen zu lassen. Am 28. März 2003 habe ich im Karlsruher Haus des Handwerks im Rahmen einer Ausstellungs-Eröffnungs-Rede (die Malerin Ursula Maria Steinbach und ich mit Holz-Arbeiten) folgendes gesagt:
xxxxx„Von Alberto Giacometti stammt der Satz: ‚Ich habe nur dann das Gefühl voranzukommen, wenn ich nicht mehr weiß, wie ich das Messer, mit dem ich modelliere, halten soll.‘ Im heißen, produktiven Kern des Kunstschaffens zeigt sich als dessen benennbares Charakteristikum ein Mangel an Kenntnissen und Fertigkeiten. Überspitzt gesagt, heißt Künstler sein zugeben müssen, dass man im entscheidenden Moment sein Handwerk nicht mehr beherrscht und daher für nichts garantieren kann. (Dem Handwerker, der aus Reklamegründen unter dem Pseudonym des Künstlers auftritt, sollte das zu denken geben.) Im Zentrum der Kunst steht, allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz, ein Nicht-Können; im Zentrum des Handwerks steht und soll stehen der zuverlässige Gebrauch von Kenntnissen und Fertigkeiten.“
xxxxxIch finde das nach wie vor gar nicht so übel. Nicht zuletzt, weil ich damals en passant zu verstehen gab, dass auch ein Künstler sein Handwerk beherrschen muss und nur in quasi Giacomettischen Momenten über den künstlerisch begabten Handwerker hinauswächst und zum Künstler-Schöpfer wird. Kennst Du solche ekstatischen Momente, wo sich gewissermaßen eine Tür zum Numinosen öffnet oder ist das alles doch reichlich übertrieben (wobei gegen Übertreibungen ja grundsätzlich nichts zu sagen ist)?

MS:
Also ich gebe zu, das kenne ich. Es „hellt sich mir Blödem der Blick“ (nach Wagners Walküre) und ich stelle fest, was ich da zustande brachte. Erwähnter Franz Marc schrieb auch, von seinen besten Sachen wisse er gar nicht, wie er das gemacht habe. Dem Numinosen, dem von den Göttern, bin ich halt aus ganz anderen tiefen Schichten verbunden als der Zweckmäßigkeit. Hoffentlich bleibt’s so. Mich würde hier doch mal interessieren, ob ein Künstler wie Hockney so was erwähnt oder ob er ganz cool sachlich bleibt (aus Mentalitätsgründen vielleicht). Ich wünsche oder wünschte mir oft, alles rationalisieren und systematisieren zu können, zu meiner Entlastung. Aus solchen Vorsätzen wurde nie was.

LR:
Jedenfalls sagt David Hockney mehr als nur ein Mal, dass das Geheimnis eines außergewöhnlichen Bildes nicht gelüftet werden kann, indem man die Art und Weise seines Zustandekommens im technisch-handwerklichen Sinn analysiert. Wer solches einräumt, gibt damit doch zu, dass man gute Bilder, oder sagen wir stattdessen einfach mal „Kunst“, nicht „machen“ kann. Also wir und Hockney wären in diesem Punkt gewiss einer Meinung: Es gibt keinen rational rekonstruierbaren Weg zur Kunst beziehungsweise (bescheidener) zum guten Bild. Bei den guten Bildern scheint etwas Trans-Faktisches im Spiel zu sein, etwas, das in diesem Sinne nicht von dieser Welt ist.
xxxxxIch möchte mich aber davon, also vom künstlerischen Suchen oder Tasten nach dem Transzendenten, nicht bestimmen lassen. Was mir an Hockney unter anderem gut gefällt, ist seine künstlerische, oder vielleicht sollte ich sagen: menschliche Unbekümmertheit. Wenn ihn eine neue Möglichkeit, Bilder zu machen, interessierte, dann war für ihn die Frage, ob das Kunst ist oder nicht, irrelevant. Also wenn er zum Beispiel mit der Fotokamera experimentierte oder Bilder, in Segmente zerlegt, von Kalifornien nach Brasilien faxte. Näher mein Gott zu dir auf dem Königsweg der Kunst? Ich male, zeichne oder skulptiere nicht, um damit dem Jenseits näher zu kommen, sondern weil es mir Freude macht. Wenn mir die Götter meine kindlich spielerische Selbstbezogenheit nicht übel nehmen und mir trotzdem mit dem ein oder anderen Wink (numen) zu Hilfe kommen, habe ich nicht nur nichts dagegen, sondern sage auch gerne: Habt Lob und Dank dafür! Amen.

MS:
Die sogenannten besten Sachen sind in der Tat die absichtslosen. Meist bemerkt man es gar nicht; ich kann sogar froh sein, wenn ich sie nicht aus Willkür zerstört, überarbeitet oder sonstwie verändert habe. Aber andererseits ist es auch berechtigt, nicht alles gelten zu lassen. Mit meinem Denken, Beurteilen und Kontrollieren erstelle ich mir zwar eine Art Käfig, doch das ist der Preis, schließlich will ich ja das unbewusste Tun ins bewusste heben. Aber das bildnerische Bewusstsein ist, wie gesagt, was anderes als das begriffliche, das wäre nochmal eine andere Ebene. Ich merke es, wenn ich anfange, was zu beschreiben. Irgendwie bin ich außerhalb der Begriffe, darunter oder darüber. Die Surrealisten hatten, wenn ich’s recht sehe, den Begriffskäfig zu sprengen unternommen. Dies auch in der Literatur selbst, denke ich; durch einen Automatismus, ohne ästhetische Kriterien, und sobald die Eitelkeit bei manchen solche Kriterien zuließ, was laut Breton nicht lange auf sich warten ließ, war das Unternehmen verfälscht und der Zustand der Gnade verloren, so schrieb er selbst.
xxxxxWas soll man machen? Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass Dein neueres Werk, das Relief, das Du selbst kürzlich als Video vorstelltest, sich vielschichtig, auf vielen verschiedenen Ebenen abspielt beziehungsweise eben durch diese Beschreibung, besser: diesen Vortrag (im →Video), erweitert hat oder umfassender wurde, und es stellt sich auch von hier ein Zugang rückwärts zur Anschauung her.

LR:
Nachdem ich, einer spontanen Idee folgend, das Video gemacht hatte, kam es mir so vor, als habe sich das Relief oder das Bild dadurch verändert. Du scheinst etwas ähnliches wahrgenommen zu haben, da Du sagst, es stelle sich ein Zugang rückwärts zur Anschauung her. Ich verzichte darauf, Adorno als Zeugen dafür aufzurufen, dass ein Kunstwerk, falls der Name an dieser Stelle erlaubt ist, nur scheinbar ein Objekt, in Wahrheit aber ein Prozess ist, der mit der handwerklichen Fertigstellung des Kunst-Fetischs keineswegs zum Stillstand kommt. Statt Adorno zitiere ich Marcel Duchamp der gesagt hat: „Es ist nicht der Künstler allein, der den schöpferischen Akt bis zum Ende vollzieht, denn der Betrachter erst stellt den Kontakt des Werkes mit der Außenwelt her, indem er die ihm innewohnenden Werte entziffert und interpretiert und so einen eigenen Beitrag zum schöpferischen Vorgang leistet“.
xxxxxMit anderen Worten: der schöpferische Akt beginnt nicht nur lange vor dem ersten Pinselstrich oder Hammerschlag, sondern er endet auch erst dann, wenn das Objekt der ästhetischen Begierde aus aller Augen und aus jeder Art von Sinn verschwunden ist. Das klingt nach dubioser Esoterik. Für mich wäre es aber eine der Arbeitshypothesen einer empirischen Kunstforschung, die es aus praktischen Gründen als real existierende nur mit einer grob vereinfachenden Methodik geben könnte. Diese Kunstforschung würde mit einem Werk-Begriff arbeiten, der auf ein hoch komplexes Beziehungssystem hinausläuft, mit Strukturelementen der unterschiedlichsten Seins-Kategorien. Ich denke, der französische Sozialforscher Bruno Latour wäre der geeignete Mann dafür. Aber ich glaube, ich schweife ab.

August 2017

MS:
Empirische Kunstforschung, wäre das dann eine vom Sammeln oder Beschreiben von Dingen, Daten oder auch Handlungen und Begriffen aller Art ausgehende Kunst-Wissenschaft oder Kunstgeschichtsschreibung, also sozusagen induktiv vorgehend? Wobei mir, wenn das so wäre, der Gedanke käme es mit einer Art Inventarisierung größten Stils zu tun zu haben … was mir Schwindel verursacht. Bruno Latour kenne ich leider nicht, habe jetzt aber gesehen, dass er zweimal mit Peter Weibel im ZKM Ausstellungen kuratierte.
xxxxxWie Dinge plötzlich oder vorübergehend Kunstwerke werden, zeigten auch die objets trouvés – Du nennst Duchamp. (Auch manch neuzeitlicher Karlsruher Kunstprofessor, so scheint es, wurde spontan oder allmählich auf dem Sperrmüll oder bereits in den Fluren der hiesigen Akademie, vorzugsweise in den Mülleimern, solcher ansichtig, fischte sie heraus und bearbeitete sie vor der Erhebung zum Kunstwerk und dem Ausstellen nicht unbedingt weiter, was mein eigener Professor immerhin noch für nötig erachtet hätte).
xxxxxBevor Du mir schreibst, was es mit Latour auf sich hat (ich las auch was von einer Akteur-Netzwerk-Theorie), darf ich nochmals den Altmeister Dali erwähnen. Er hielt einmal den (angeblich) von Urin angefressenen Metallring eines Kugelschreibers ganz nah an eine laufende Kamera und drehte ihn, es war ein phantastischer, schöner Film mit imaginären Landschaften und Dalis Kommentar, der sie entstehen ließ: „Impressions de la Haute-Mongolie“ hieß er. Ich sah ihn einst im Fernsehen und war beeindruckt (→ Youtube). Da war natürlich jede Menge Gestaltung im Spiel. Aber man bräuchte letzten Endes gar nichts dergleichen, wenn man frei und unvermittelt sozusagen seine Libido auf alles mögliche werfen kann.

LR:
Bruno Latour habe ich letztes Jahr im ZKM live erlebt. Da hatte ich allerdings schon einiges von ihm gelesen. Er hat mich und zwanzig andere Besucher durch die von ihm mit eingerichtete Ausstellung Reset Modernity geführt (Du hast auf seine Zusammenarbeit mit Peter Weibel hingewiesen). Ich muss zugeben, dass ich ZKM-Ausstellungen in der Regel und in vielerlei Hinsicht verwirrend finde. Das soll wahrscheinlich auch so sein. Wer durchschaubare Strukturen bevorzugt, sollte sich vom ZKM fernhalten. An Details der Ausstellung erinnere ich mich nicht. Ich fürchte, da gab es auch nichts, woran man sich erinnern könnte oder sollte. Unter dem 13. Mai 2016 habe ich im Tagebuch notiert: „Gruppe von rund zwanzig Personen. Latour sympathisch, sein Englisch gut zu verstehen. Ein Vortrag mit ein paar Beamer-Bildern wäre womöglich ertragreicher (und erträglicher) gewesen.“ Da ich, wie gesagt, schon einiges von ihm gelesen hatte, habe ich mich irritiert gefragt, warum sich der große Franzose auf diesen Blödsinn wohl eingelassen hat.
xxxxxDenn Latour kann man ansonsten gar nicht überschätzen. Ein wunderbares Buch ist Pandora’s Hope (1999). Ich vermute oder hoffe, es wurde von Gustav Roßler unter dem Titel Die Hoffnung der Pandora (Untertitel: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft) gut genug ins Deutsche übertragen. Davor las ich Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory (2005). Hier lässt schon der deutsche Titel vermuten, dass die Übersetzung wahrscheinlich nichts taugt: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft – skandalöser Unfug! Denn das Buch ist zu einem nicht geringen Teil eine ausgedehnte und erfreulich scharfe Polemik gegen die Annahme, es gebe so etwas wie eine „Gesellschaft“ (englisch: „society“).
xxxxxAber zurück zur Kunst. Das, was Latour für die Wissenschaftsforschung postuliert, könnte man in gleicher Weise auch für die Kunstforschung ins Auge fassen. Das liefe dann, wie Du richtig vermutest, auf eine schwindelerregende Bestands- und Beweisaufnahme in großem Stil hinaus. Was macht der Künstler wirklich, wenn er ein Bild malt, und wie geht es danach ganz konkret weiter? Und, parallel etwa zu der Frage, wie eine wissenschaftliche Tatsache zu einer wissenschaftlichen Tatsache geworden ist: Wie wird aus einer mit Farbe bedeckten Leinwand ein sogenanntes Kunstwerk? Welche Akteure (menschlicher und nicht-menschlicher Art) sind am so verstandenen realen Kunst-Schöpfungsprozess beteiligt?
xxxxxWas jedoch, wie mir scheint, auch über diesen mühsamen Weg des Nachvollzugs von Aktionen und Transaktionen nicht beantwortet werden kann, ist die Frage nach den Gründen für den sublimen Unterschied zwischen dem nur Guten und dem Außergewöhnlichen. Doch es ist ja keineswegs diese Differenz, die der moderne Kunstbegriff meint, wenn er „Kunst“ sagt. Eine mit Latours Methoden arbeitende empirische Kunstforschung könnte voraussichtlich zeigen, wie Kunst (verstanden als soziales oder Akteur-Netzwerk-Phänomen) entsteht, ohne dass der einzelne Künstler damit in die Lage versetzt wäre, im Do-it-yourself-Verfahren Kunst zu machen.
xxxxxVielleicht käme man mit den Mitteln Latours aber auch zu der Feststellung, dass es „Kunst“ ebensowenig gibt wie „Wissenschaft“ oder die „Gesellschaft“. Es ginge uns dann wie den Astrophysikern, die zugeben müssen, dass es die sogenannten Neutrinos, denen sie auf der Spur sind, als veritable „Teilchen“ eigentlich gar nicht gibt und wir schon zufrieden sein können, wenn es uns gelingt, mit Hilfe von riesigen Messfeldern im arktischen Eis die Leuchtspuren ihrer materiellen Nicht-Existenz zu beobachten und aufzuzeichnen. Vielleicht ein brauchbares Bild auch für den Künstler: Künstler sein hieße dann, Spuren sensibel zu erahnen und nachzuzeichnen, welche die „passierende“ Kunst auf dem Papier, auf der Leinwand oder in welchem Medium auch immer en passant und ungeachtet ihrer faktischen Nichtexistenz möglicherweise hinterlassen hat.

MS:
Bei wissenschaftlichen Tatsachen stelle ich mir vor, dass der Großteil der Wissenschaftler einig sein muss, dass es eine Tatsache ist. Ich weiß nicht, ob Objektivität da möglich ist. Wenn festgestellt würde, etwas ist ein Kunstwerk, müsste doch auch erst eine Definition her; oder aus den vielen Beschreibungen oder Erforschungen von Kunstwerken könnte danach der Begriff erläutert oder präzisiert werden.
xxxxxDen „Turm der blauen Pferde“ von Franz Marc hätte oder hat der Kunsthistoriker Klaus Lankheit sicher zu den außergewöhnlichen Kunstwerken gezählt auch wegen der Bedeutung die das Werk erlangte (nicht zuletzt wegen des Einsatzes von Lankheit selbst) für eine ganze Generation und mehr. Solche Inkunabeln sind durch den Künstler angelegt aber nicht herstellbar. Allerdings verstehe ich nicht, was Latour jetzt mehr aufzeigen könnte als Lankheit das tat.
xxxxxAls weitere Frage käme mir, wie es sich mit der grade gemachten Kunst verhielte, denn eine ausführliche Untersuchung setzt gewiss einen zeitlichen Abstand voraus.
xxxxxDas letzte Beispiel verstünde ich so: Einer schnitzt ein Bild, es kommt heraus, es war keine Kunst, man stellt aber fest, es gilt als solche, also hat er doch Kunst gemacht … ist es eine Art spannender Universalienstreit?

LR:
Lankheit hat sich für Franz Marc und seine Bilder interessiert. Latour würde sich nicht für Franz Marc und sein Werk, sondern für die „Erfindung“ des Künstlers Marc und die „Erfindung“ oder „Entdeckung“ eines Kunstwerks mit dem Titel „Turm der blauen Pferde“ interessieren. Das ist etwas ganz anderes.
xxxxx„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?“ lautet der Untertitel des fünften Kapitels in Die Hoffnung der Pandora. Gemeint ist: Wo war die Milchsäure-Hefe, bevor Pasteur sie „entdeckt“ hat? Gab es sie überhaupt? Auf Franz Marc bezogen könnte die Frage entsprechend heißen: Wo war Marcs „Turm der blauen Pferde“, bevor die Kunstwelt ihn entdeckte? Gab es das Werk überhaupt schon? Im Anschluss an Latour könnte die Antwort lauten: Nein, es gibt das Werk in einem bestimmten Sinn erst, seitdem Kunsthistoriker wie Klaus Lankheit und andere Akteure es für der Rede und der Schreibe wert erachten. Man wäre mit so einer Auffassung gar nicht weit entfernt von der Philosophin Hannah Arendt, die in The Human Condition (1958, 1967 deutsch: Vita activa oder Vom tätigen Leben) von einer „Wirklichkeit, die durch Gesehen- und Gehörtwerden entsteht“, spricht und von einer „‚objektiven‘, d.h. gegenständlichen Beziehung zu anderen“.
xxxxxApropos objektiv: Du hast, wie ich finde zurecht, die Möglichkeit von wissenschaftlicher Objektivität bezweifelt. Latour zeigt, dass und wie es sie als geschichtliches Phänomen durchaus gibt, sofern man mit „Objektivität“ nicht irgendetwas ahistorisch oder transzendent Absolutes meint, von dessen erkennbarer Realität ja der typisch moderne Mensch nach wie vor überzeugt ist. Und in seinem ahistorisch-irrationalen Glauben lässt der moderne Alles-erklären-Könner sich auch durch keinerlei wissenschaftliche Aufklärung über die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Aufklärung beirren.
xxxxxFür uns als künstlerisch tätige Menschen (möglicherweise Proto-Künstler mit Proto-Werken) könnte es interessant sein zu erfahren, was wir – ausgestattet mit Latourschem Knowhow – selbst dazu beitragen können, dass wir und unsere Werke einen immer höheren Grad an Wirklichkeit und Objektivität erlangen. Eine empirische Kunstforschung nach Latour hätte also, anders als Lankheits Elogen auf Franz Marc, für alle Künstler und Möchtegern-Künstler einen unmittelbar praktischen Nutzen. Ich ahne schon, dass Dich so etwas nicht besonders interessieren würde und ich selbst bin ja mit meiner so verstandenen Selbst-Verwirklichung auch nicht besonders weit gekommen.

MS:
Ist Latour mit seiner Forschung nicht sozusagen einen Schritt weiter dahinter oder davor, indem er quasi über die Forschung forscht? Mir ist allerdings doch noch nicht ganz klar, was an der empirischen Kunstforschung ganz anders wäre als an der herkömmlichen Kunstwissenschaft.
xxxxxWenn höherer Wirklichkeitsgrad und Objektivität größere Bekanntheit ist – so verstehe ich das – dann kann man sicher einiges hierfür unternehmen. Oder hätte einiges unternehmen können oder sollen … jetzt treten wir wohl schon ins (gleichsam wenig wirkliche) Spätwerk ein.

LR:
Du verführst mich dazu, „Präliminarien zur einer Kunstforschung im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour“ zu formulieren und (an welchem Ort auch immer) alsbald zu veröffentlichen. Eine reizvolle Aufgabe. Dabei wollte ich doch gerade ein Bild-Programm für die nächsten Monate und die immer später werdenden, hoffentlich noch kommenden Jahre entwerfen und mir dessen Verwirklichung (also die Verwirklichung des zunehmend Unwirklichen, wie Du sagst) zur Hauptaufgabe machen.
xxxxxLatour ist empirischer Wissenschaftsforscher. Also zugleich hinter, vor, über, unter und in der Wissenschaft tätig. Von der herkömmlichen Kunstwissenschaft, falls es die gibt, unterscheidet sich seine beziehungsweise „meine“ Kunstforschung vor allem methodisch und natürlich in der Begrifflichkeit. In seinem (ich glaube, noch immer nicht abgeschlossenen) Internet-Projekt AIME entwickelt Latour ein atemberaubendes terminologisches System. Es wird wohl ein wahrer Palast der Wissenschafts- und möglicherweise auch Kunst-Wissenschaft werden, für den er in Die Hoffnung der Pandora bereits den Grundstein gelegt hat. Es ist kein großes Wagnis, zu bezweifeln, dass es eine kunst- und kulturwissenschaftliche Schule gibt, die ähnlich hohe Ansprüche an die Systematizität (also die Wissenschaftlichkeit im engeren Sinn) ihrer Forschungen stellt wie Latour und seine Eleven es tun. Man muss es nicht so machen wie sie, ich selbst neige eher zum Versuch als zum Versuch, also zum Schreiben von Essays und nicht zum Sammeln von Daten. Doch wenn sich jemand auch und gerade im Bereich des Kulturellen dazu entschließt, die Sache mit dem Forschen und der Wissenschaft wörtlich zu nehmen, dann finde ich das nicht nur sehr respektabel und bemerkenswert, sondern nachgerade schön. Einer wohlgeformten, „durchstrukturierten“ wissenschaftlichen Theorie wird man die Schönheit im ästhetischen Sinn weder absprechen können noch wollen.

MS:
Beide Vorhaben verlangen mir etlichen Respekt ab. Ein Entwurf eines Bildprogramms ist schwierig und begeisternd zugleich, es beweist die Autonomie des Künstlers und verlangt von ihm aber weniger Künstler zu sein. Vor vielen Jahren schrieb der Maler und Schriftsteller A.P. Gütersloh: „Der Künstler ist jenes einzigartige Wesen, das am wenigsten zu sagen hat, aber alles zu Sagende am besten zu sagen versteht. Von ihm Inhalte, Entdeckungen, Neuerungen zu erwarten heißt, das Was über das Wie stellen; heißt ferner nicht wissen, ja nicht einmal ahnen, daß alle Inhalte, Entdeckungen, Neuerungen vorgrammatische Zustände oder Aktionen sind, die erst dann, wenn sie Wort, Bild, Ton geworden sind, des Schöpfers Absicht vollkommen verwirklicht haben.“ usw. („Der innere Erdteil“, 1966) Meinerseits wäre die große Schwierigkeit die, ein Programm, wäre es erstellt, nicht anschließend ständig abzuändern; was bei Auftragskunst, also gegebenem Bildprogramm, so einfach nicht ginge.
xxxxxEine kunstforschende wissenschaftliche Arbeit oder Vorarbeit verlangt wohl gleichfalls Fähigkeiten und Talente die über das Künstlerische hinausgehen. Was ich selbst im Nebenfach Kunstgeschichte kennenlernte, erschloss mir immerhin einige Einsichten, die ich nicht missen möchte. Wissenschaft und Forschung haben wahrscheinlich Fragestellungen als Ausgangspunkt und eine Art Objektivitätspostulat und betreiben alles „ohne Zorn und Eifer“, was dem künstlerischen Temperament vielleicht schwerfällt. Immerhin begreife ich umstandslos die Möglichkeit und Wirklichkeit von Schönheit in Aufbau, Struktur, Aufgaben und Lösungen in den Wissenschaften. Bei mir ist das trotzdem meistens noch irgendwie mit Sichtbarem verbunden. Wenn ich – weil ich die Werke Latours nicht kenne – einen oberflächlichen Blick ins AIME-Projekt im Internet werfe, sehe jedenfalls was sehr Ansprechendes. Ich stelle mir vor, dass es elegant zugehen kann, wie bei mathematischen Aufgaben. Ich wäre da schon gespannt, wie es in Deinem Fall mit der Vorgehensweise und von den Begriffen sich vorstellt.

September 2017

LR:
Ich glaube nicht, dass ich meine Karriere (das heißt wörtlich soviel wie „Karrenbahn“) als Theoretiker beschließen werde. Lass uns daher lieber über die künstlerische Praxis reden.
xxxxxDeine Bedenken in Bezug auf die Nachhaltigkeit eines Bildprogramms sind auch meine Bedenken. Aber es kann motivierend wirken, sich in der Maske des Auftraggebers selbst gegenüberzutreten – um es nicht nur bildlich, sondern auch noch theatralisch zu formulieren.
xxxxxApropos Maske: Dieses Motiv (im engeren und im weiteren Sinn) ist für mich nach wie vor virulent und könnte im Zentrum eines wie auch immer gearteten Bild- oder Arbeitsprogramms stehen. Und wenn ich mir Deine Bilder ansehe, meine ich, auch sie könnten in Ausführung eines selbsterteilten Auftrags entstanden sein. Solche Handlungsanweisungen, die der Künstler sich selber gibt, können ja durchaus vage oder offen oder beweglich sein. Sogar den Begriff der Choreographie halte ich in diesem Zusammenhang für brauchbar. Letzten Endes geht es um Muster, die man erkennen kann, und um die Frage, inwieweit man als Künstler in Bezug auf die Musterbildung Herr im eigenen Hause sein kann und sein will.
xxxxxWenn ich Dich richtig verstehe, dann hältst Du künstlerische Freiheit und programmatische Bindung für letztlich nicht miteinander zu vereinbarende Konzepte. Könnte es nicht sein, dass es in Wahrheit „nur“ um die Frage geht, ob sich ein Werk in Gänze naturwüchsig und sogenannt zufällig oder eben teilweise geplant entwickelt? (Wobei ich jetzt nicht auch noch die Frage stellen will, wie viel Zufall und naturgesetzliche Notwendigkeit in der sogenannten Planung zum Zuge kommen.)

MS:
Künstlerische Freiheit und Bindung ans Programm finde ich schon vereinbar, die fehlende Möglichkeit bei von außen gestellten Themen, diese ständig abzuwandeln, kann sogar erst richtig die Fähigkeiten beflügeln und die Konzentration auf die Aufgabe fördern. Unter solchen Umständen muss ich nämlich meine Energie nicht in kunstfremde Dinge wie Inhalte stecken. Was nicht heißen soll, dass ich die Freiheit, mir selbst Themen zu formulieren und Motive zu wählen, nicht schätze. Ich kann es mir kaum anders vorstellen.
xxxxxVor Jahren hast Du mal eine Rede zu einer Ausstellung mit Werken von mir verfasst, wo dargelegt wurde, wie ich die Abfolge der Herstellung eines Bilds wie etwa der Romantiker Ph. O. Runge sie aus seiner Auffassung heraus für nötig erachtete, oftmals von hinten her durchlaufe, also erst allmählich zum Thema oder Motiv usw. vordringe. Und alles das fällt mir ungeheuer schwer angesichts der Möglichkeiten an Gestaltung, die ich habe. Ich meine da gar nicht Fertigkeiten oder Können, das alles ist bei mir wohl durchschnittlich und ist sekundär. Wie viele unzählige Wege und Richtungen, in die man eine Arbeit vorantreiben kann, gibt es doch, wenn man wie ich nicht mit feststehendem Entschluss und Endziel loslegt, sondern einigermaßen mehr auf Empfang als auf Sendung eingestellt bleibt. „Wollen und nicht wissen was“, sagte mal Marées. Außenstehenden wird er nichtsdestoweniger recht entschieden erschienen sein. Den mehr von der Grafik herkommenden Künstlern (wie Vasarely, Mavignier) war es normal, von der Planung zur Ausführung vorzurücken, und das konnte auch ein Angestellter machen. Das Organische der Entstehung wäre hier vielleicht anders als gewohnt zu sehen, je nachdem, was man alles zum Werk zählt. Ausgangspunkt ist mir jedenfalls schon eher was Sinnliches oder Gefühlswelten als eine gedachte Idee. Freie Absichtslosigkeit gern, aber reiner Selbstausdruck ist hingegen nicht meine Sache. In vielen Fällen habe ich auch eine Reihe von begleitenden Arbeitsmaximen im Kopf, an denen ich mehr oder weniger festhalte, ein Beispiel könnte sein: keine Form- und Farbwiederholungen, oder andere Reduzierungen und Regeln, die aber oft nur dazu da sind, dass ich sie dann doch nicht einhalte. – Der Künstler ist autonom, schon lange, seit J. A. Carstens, der (glaube ich) einer der ersten war, die Autonomie für sich beanspruchten. Eine schöne und quälende Situation zugleich, vor allem wenn man wie ich das Talent hat, sich’s schwer zu machen. Wenn ich mich frage, ob ich ein Zentrum finden kann oder mehrere Zentren, wie Du mit der Maske eines hast, komme ich ins Schwimmen, wie wäre das Wort dafür? Nenne ich Begriffliches oder Titel, wird es schnell ungefähr oder irreführend.
xxxxxIn vielen Fällen bin ich besser damit gefahren, mir die Reaktionen der Betrachter anzuhören. Also ohne Titel anzubieten. Aber ich habe solche schon im Kopf oder erstellte manchmal richtige Listen oder Begriffsreihen, um irgendwie die Bildwelten zu begleiten. Mein Kunsterzieher am Gymnasium (Walter Schautz), ein Künstlerlithograf, war darin vorbildlich. Der hat parallel immer dazu geschrieben und tut das heute noch. Es gab eine Zeit, da kreiste er um das Thema des Vogelmenschen, als geborener Ulmer schuf er mal eine Lithografie „der Schneider von Ulm“. Ich habe eine zehnseitige Beschreibung der Entstehung dieser Farblithografie, die er in ein Lithografietechnikbuch, das er herausgab, mit aufnahm. Ausgangspunkt war ein gefundener Vogelflügel, Ideen, eine Ideenmappe, Arbeitsstadien und -vorgänge, jahrelang, ganz am Schluss wurde der eigentliche Titel gefunden.
xxxxxIch habe mal was gemalt, was wie eine Frauenfigur aussah, und auch ausgestellt in verschiedenen Stadien, die Gottseidank keiner mehr wiedererkannte. Der jetzige letzte Zustand ist gar nicht unbedingt der beste. Aber es fiel mir dazu irgendwann der Titel „Bikini-Atoll“ ein, der sich mir seither im Kopf festgesetzt hat, ohne dass ich ihn auf die Ausstellungslisten geschrieben hätte. Ein Zwischenstadium hier als Beispiel. So gäbe es vieles. Was eint das alles? Ein wenig geht es mir wie den Romantikern. Diese wollten die Vergangenheit wiederaufleben lassen, sie wollten gotische Bilder malen, und ein wenig finde ich mich selbst in einer vergleichbaren Lage vor.

LR:
Du sprichst eindringlich und überzeugend von der Freiheit der Motivwahl, von der Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten, von unzähligen möglichen Wegen und Richtungen, von der Autonomie, die Du nicht missen möchtest. Und beantwortest die Frage nach der Einheit in der Vielfalt mit dem Hinweis auf das gotisch-romantische Element in alledem. Andererseits ist Dein Hingezogensein zu bestimmten Formen, Farben und Farbverläufen (natürlich wäre dazu noch mehr zu sagen), worüber Du damit noch nichts gesagt hast, deutlich erkennbar.
xxxxxFür mich ist Kunst die Suche nach mir selbst in einer äußeren Gestalt, in einer Form, in der ich mich wiedererkenne. Damit meine ich etwas anderes als den von Dir erwähnten und abgelehnten reinen Selbstausdruck, den ich für Kitsch halte, weil er einen direkten Weg gehen will, wo man, wenn überhaupt, nur auf Umwegen zum Ziel kommt. Der Künstler, wie ich ihn verstehe, ist in seiner Arbeit auf der Suche nach sich selbst und wenn er am Mittag meint, sich gefunden zu haben, rollt der Stein kurz nach zwölf den Berg wieder hinunter und er muss von vorne anfangen. Im Grunde sind das alles Selfies, die ganzen Bilder und Skulpturen und Installationen: lauter Selfies auf mehr oder weniger hohem Niveau. Aber wir sind mit diesen Selbstporträts nie wirklich zufrieden, immer meinen wir, sie zeigen uns doch noch nicht so, wie wir eigentlich sind. Sie sind uns noch nicht ähnlich, noch nicht authentisch genug – glücklicherweise, könnte man sagen.
xxxxxIch meine, bei Dir ist das auch so. Deshalb sind unsere Reden von den vielfältigen Möglichkeiten und autonomen Freiheiten letztlich illusionär. Denn es geht zuerst und zuletzt um ein authentisches Selbstporträt – und das hat mit Freiheit, Wahlmöglichkeit und Gestaltungsvielfalt nur sehr bedingt etwas zu tun. Wir wähnen, frei zu sein, aber immer wird der Versuch eines Selbstporträts daraus. Bei Dir erkennbar an Deiner Farb- und Form-Palette, zu der Du unwillkürlich immer wieder greifst. Bei mir liegt der Fall komplizierter, aber im Prinzip ähnlich.
xxxxxWenn wir authentisch sind, sind wir unfrei und verfügen keineswegs über eine Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten. Das müssen wir den Beltracchis überlassen. Der Fälscher hat die freie Wahl. Seine „Gestaltungsmöglichkeiten“ sind so vielfältig wie die Kunstgeschichte, in deren Wäldern und Auen er als Freischütz seine Beute findet. Er ist frei, weil er sich selbst los ist. Wenn Beltracchi einen authentischen Beltracchi malt, wird er plötzlich sehr einfältig und muss es werden, denn er ist im Grunde ein Einfaltspinsel und deshalb ein Einfaltspinsler, sobald er echt wird oder zu sein versucht. Mir ist er übrigens sehr sympathisch.
xxxxxIn diesem Zusammenhang noch ein Wort zum Politischen in der Kunst, das neuerdings wieder im Brustton der rechthaberischen Rechtschaffenheit, die den Zeitgeist in und hinter sich weiß, eingefordert wird. (Auch in der momentan in Karlsruhe geführten Debatte um die möglichen Lüpertz-Reliefs in den zukünftigen U-Strab-Bahnhöfen wurde Lüpertz das Unpolitische seiner Kunst vorgeworfen, zugleich sah man in ihr etwas Rechtes und Reaktionäres, was kein Widerspruch zu sein scheint.) Du hast Inhalte im allgemeinen als kunstfremd bezeichnet. Das würde ich so hart nicht sagen. Wenn ich aber den Künstler verstehe als den, der im Bild oder worin auch immer sich selbst auf die Spur zu kommen sucht, dann ist die Forderung nach politisch eindeutiger Kunst identisch mit der Forderung, ein „Porträt des Künstler als politischer Aktivist“ nach dem anderen zu malen. Ob mir das dann ähnlich sieht oder nicht, spielt keine Rolle. Ich soll also nicht mehr suchen, sondern immer schon gefunden haben. Das hatten wir in Deutschland mindestens schon zweimal. Das erste Mal kam es von rechts, das zweite Mal von links (hüben wie drüben). Jetzt kommt es von lechts oder von rinks. Indem „links“ und „rechts“ endgültig zu moralischen Kategorien, zu Synonymen für „gut“ und „böse“ geworden sind, können diese Wörter zwar nach wie vor im Straßenverkehr, aber für politische Unterscheidungen kaum noch verwendet werden.

MS:
Lüpertz sagte doch vor langer Zeit, Frauen könnten nicht malen. Ich glaube seine Argumentation war damals etwa so, dass sie mit sich und ihrer Situation in der Gesellschaft beschäftigt seien und sich deshalb nicht in der Lage befänden, der Größe der Malerei gerecht zu werden. Ich kann in diesen provokanten und seinerzeit zu Recht umstrittenen Äußerungen immerhin eine Verteidigung der Kunst wahrnehmen: dass sie nicht durch wesensfremde Angelegenheiten und Interessen besetzt und angeeignet werden sollte.
xxxxxDie Diskussion über die geplanten U-Strab-Reliefs hat wahrlich groteske Formen angenommen, und recht interessant ist die Auseinandersetzung über das Thema, das er wählte und die Äußerungen und Forderungen hierzu, zu denen sich seine Gegner versteigen. Wahrscheinlich darf Haydns Schöpfung bald nur noch in Kirchen gesungen werden und nicht etwa in der Stuttgarter Liederhalle.
xxxxxWas wäre, wäre Gerhard Richter angetreten? Man hätte ihm, der meines Erachtens stets opportune Inhalte anbietet, wenig widersprochen. Für mich wäre er übrigens in der von Dir genannten Hinsicht des Selbstporträts im Hinblick auf seine Stil-Palette – Meister aller Klassen – vielleicht nicht weniger authentisch, aber charakterloser.
xxxxxKunstwerke haben natürlicherweise Inhalte. Vom Inhalt zu trennen wäre auch der Gehalt. Wenn ich an oder mit Inhalten arbeite, ist das aber doch eher nicht der genuin künstlerische Teil meiner Arbeit, wenn man überhaupt hier trennen oder unterscheiden kann. Künstlerisches Vorgehen ist doch so, dass ich mit dem Bilden Stellung beziehe und aus meiner formenden Tätigkeit und deren Ergebnis sich die „Aussagen“ „ablesen“ lassen. Wenn Plato in Raffaels Fresko „die Schule von Athen“ den Finger hebt (und Aristoteles streckt die Hand aus), ist das eine künstlerische Leistung ohnegleichen. Auch Menzels Monumentalbild der Krönung Wilhelms des I. war ein Werk, ein Auftrag, wo ich sagen würde, der Inhalt wurde erst richtig durch Menzels Mittel zur Kunst.
xxxxxIn der Karlsruher Sonntagszeitung las ich einmal von Neo Rauch die Sätze: „Ich mag die politischen Aktivisten auf dem Felde der Kunst nicht. Sie ist mir hochgradig zuwider, die Attitüde des Kommissars“. Er sei ein politischer Mensch, aber kein politischer Maler. „Ich reflektiere sehr wohl, was geschieht, aber ich bin der Meinung, dass ich meine Leinwände weitestgehend freihalten muss von Anspielungen auf Vorgänge im politischen Raum. Das wären nur lächerliche Versuche, die Malerei der Propaganda oder Agitation aufzuschließen.“ – Das ist heute auch meine Meinung. Aber ich habe ebenfalls den Eindruck, inzwischen werden Stellungnahmen gewünscht, es wird irgendwie erwartet, dass Künstler sich zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern und eben am besten politisch eindeutig Stellung beziehen, wenn etwa Förderung oder Auftrag erfolgen soll. Und nach rückwärts wird offenbar neu durchforstet, ob Kunst, Literatur usw. heute politisch korrekt ist.
xxxxxHell-Dunkel jedenfalls ist für mich ein Stilmittel der Malerei und sollte es bleiben. Sind unsere Ansichten zu ähnlich?

LR:
Wenn Du mit dieser Frage andeuten willst, dass wir nicht kontrovers genug parlieren – also ich gehe Streitgesprächen nicht aus dem Weg, aber ich suche sie auch nicht. Ehrlich gesagt, genieße ich es, Dir nicht ständig widersprechen zu müssen. Das passiert mir leider allzu oft: dass ich gar nicht weiß, wo ich mit meiner Gegen- oder richtiger: Dagegen-Rede ansetzen soll, weil mir das Meiste von dem, was mein Gegenüber von sich gibt, total daneben vorkommt.
xxxxxAber unsere Ansichten sind wahrscheinlich gar nicht so ähnlich, wie es auf den ersten Blick aussehen mag. Wenn ich es darauf anlegen würde, wären wir vielleicht im Handumdrehen in einen „interessanten“ verbalen Schlagabtausch verwickelt: „Die Studien blühen, die Geister platzen aufeinander, es ist eine Lust zu leben“, soll Ulrich von Hutten gesagt haben – er starb mit fünfunddreißig in der Schweiz an Syphilis und gilt als einer der geistigen Gründungsväter der deutschen Nation. Aber, wie gesagt, ich empfinde es als angenehm, dass meine Gegenrede einmal nicht an einen Gegner gerichtet ist, sondern an einen im Großen und Ganzen Gleichgesinnten.
xxxxxEin bisschen widersprechen möchte ich gleichwohl. Aber nicht Dir, sondern mir selber. Meine ziemlich steile These, der Künstler mache sich, indem er ans Werk gehe, auf die Suche nach seinem notorisch unauffindbaren Ich, kann ich nur aufrechterhalten unter Beifügung folgender Fußnote.
xxxxxWolf Biermann singt in seinem Lied „Die Elbe bei Dresden“: „Und weißt du, warum ich dich suchen will? / Weil ich mich ja finden muss.“ In der Kunst ist es nicht anders als in der Liebe: Man sucht nach seinem Vis-à-vis, um sich selbst zu finden. Ich bin aber keineswegs der Meinung, wie man nach meinen letzten Auslassungen möglicherweise meinen könnte, der Künstler geht jeden Morgen, Mittag oder Abend mit dem Vorsatz an die Arbeit, sich selber heute wieder ein Stück näher zu kommen. Sondern natürlich will man einen Baum zeichnen oder abstrakter: Formprobleme lösen. Alles andere wäre fatal. Wer ein Werk in Angriff nimmt in der Absicht, sich darin selbst zu finden und zu verwirklichen, wird am Ende nicht selten einem Konglomerat von modischen Parolen, ungeprüften Vorurteilen und gängigen Klischees gegenüberstehen. In diese Richtung zielte womöglich auch Lüpertz‘ „unerhörtes“ Wort. Um sich im Werk wiederzufinden, muss man das Werk schaffen (sich ins Werk hinein arbeiten) und nicht das Ich entdecken oder darstellen wollen.
xxxxxWas Du von Neo Rauch zitiert hast, sollte man auf T-Shirts drucken lassen und Künstlern zum Kauf anbieten. Ich glaube nicht, dass viele es kaufen würden. Und noch weniger würden sich trauen, es öffentlich zu tragen. Etwa anlässlich eines „Karlsruher Kulturfrühstücks“, wenn es einmal mehr um den Beitrag der Kunstschaffenden im Kampf für das Gute und gegen das Böse geht. Solche Sätze wie die von Rauch stehen also in der kostenlos verteilten Sonntagszeitung?! Und ich werfe die immer ungelesen weg.
xxxxxHeute erhielt ich übrigens per E-Mail eine Einladung zum nächsten „Kulturfrühstück“, es geht um „Feminismus in Kunst und Kultur“. Ich kann nachvollziehen, dass eine Kulturamtsleiterin real existierende kulturelle Phänomene thematisieren und diskutieren will. Was ich schwer erträglich finde, ist, dass sich der Einladungstext liest wie die Fortsetzung des feministischen Kampfes unter amtlicher Schirmherrschaft und unter Einsatz (man könnte auch sagen: Missbrauch) öffentlicher Gelder. Grundsätzlich würde ich mir vom Karlsruher Kulturamt mehr politische Neutralität wünschen. Schließlich sollte man sich amtlicherseits allen Bürgern der Stadt verpflichtet fühlen und nicht nur denen, die die eigene politisch-ideologische Position teilen. Aber das Deutlich-Stellung-Beziehen und Klare-Kante-Zeigen (sofern man dabei auf der „richtigen“ Seite steht) scheint ja, wie auch von Dir wahrgenommen wird, mehr und mehr zur ersten Bürger- und damit offenbar auch zur ersten Amtsstubenhocker-Pflicht zu werden. Gleichzeitig wirft man den sogenannten Rechten vor, dass sie es seien, die die Gesellschaft spalten. Wenn Dir da ähnlich mulmig zumute wird wie mir, stört mich das nicht im Geringsten. Im Gegenteil.

MS:
Du hast Recht. Zurückblickend würde ich bei mir zwar feststellen, dass ich noch nicht einmal ein politischer Mensch war und bin. Nicht, dass ich mich nicht zu Politik äußern wollte; ich kann mich in vieles hineindenken – und habe in sehr vielen Dingen schon mal das gerade Gegenteil von dem gedacht oder empfunden, was ich heute denke und empfinde, und wer weiß, wie es in Zukunft sein wird. Aber mein Lebensinhalt und der Boden meiner künstlerischen Arbeit war und ist beileibe nicht die Politik. Ich lasse mich nicht gern politisieren und kann mich nicht für diese Dinge erwärmen, die man von kulturpolitischer Seite heute so gerne von Künstlern angegangen sieht. Da reagiere ich fast allergisch und werde renitent.
xxxxxDas offene Kunstwerk! Die offene Gesellschaft! Gleiche Rechte für alle! All diese Forderungen! Aber wer heute andere Aspekte verträte, irgendetwas, womit er vielleicht aufgewachsen ist oder einfach eine Gegenposition, möchte oder könnte es schwer haben. Wolfgang Graf Waldstein, wahrscheinlich ein sogenannter Rechter, sagte vor über zwanzig Jahren einmal kritisch über die Stigmatisierung von Tradition durch das „Meinungsklima“, es ginge hierbei darum, Personengruppen, die als traditionalistisch bezeichnet würden, zu isolieren und nach Möglichkeit zu unterdrücken, damit sie nicht ihre Vorstellungen in der „offenen Gesellschaft“ zur Geltung bringen könnten. Sie würden als „Feinde“ dieser Gesellschaft angesehen, die bekämpft werden müssten. Der Toleranzbegriff dieser Gesellschaft sei mehr denn je von der Idee geprägt, die Marcuse folgendermaßen formuliert habe: „Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links…“ Daraus folge, wie Marcuse weiter sage, dass „rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, dass Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten).“ – Wolff / Moore / Marcuse: „Kritik der reinen Toleranz“, Suhrkamp (Frankfurt, 1968), S. 120f.
xxxxxIch will die Marcuseschen Gedanken oder Waldsteins Kritik an Poppers „offener Gesellschaft“ gar nicht beurteilen, auch ist Waldsteins Vortrag zwanzig Jahre alt und bezog sich, wie gesagt, auf den Umgang der Medien usw. mit Traditionalisten. Irgendwann sind halt auch die für mich interessant geworden, und die Beschäftigung mit solch abgespaltenen Teilen der Kultur.
xxxxxDie forcierte Beschäftigung mit dem Feminismus hingegen ist momentan nicht sehr lockend für mich – und könnte ich es wagen und schaffen, bei einem lobenswerten „Kulturfrühstück“ Zweifel zu äußern? Also suche ich zu meiner Rettung (nicht nur vor Politik, sondern vor jeder vergleichbaren Aggression – eine gewisse Empfindsamkeit gegenüber Eindrücken sollte mir nämlich erlaubt sein) immer wieder mit Selbstvertrauen die größtmögliche Zurückgezogenheit.
xxxxxNatürlich weiß ich, dass in der Kunst Auswirkungen von Politik im Spiel waren auch dort, wo man sie nicht gleich vermutet. Die von mir erwähnten Romantiker waren auch in ihrer Gegenwart zuhause: Caspar David Friedrichs stimmungsvolle Landschaften hatten oftmals direkten Zeitbezug. Etwa sein Werk „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“, es zierte vor vielen Jahren gar eine Briefmarke. Wer wusste gleich, dass Friedrich sie im „deutschen Rock“ gemalt hat, der zu seiner Zeit verboten war? Oder sein „Chasseur im Walde“: ein uniformierter Franzose steht verloren vor dem Eingang zum deutschen Wald, den er vielleicht nicht begreift oder durchdringen kann.
xxxxxKunst reicht auf ihre Art hoffentlich ebenso tief oder tiefer hinunter oder hinauf wie Politik, und indirekt selbst dann, wenn sie heiter-dekorativ ist. Das Heitere, Dekorative, kann sogar für uns Künstler das Schwerste sein. (Zu Recht schätzst Du die Unbekümmertheit Hockneys.) Immer wieder einmal denke ich mit Freude an eine Kunstrichtung zurück, die nur kurz währte, bevor dann anderes die Oberhand gewann: das in den USA entstandene „pattern painting“, das in den späten 1970ern in Europa ankam. Die Franzosen übrigens, sie sind ja bekanntlich oberflächlich und dekorativ. Wie herrlich ist das. Wie sinnliche Wasseroberflächen. Du kennst Frankreich besser als ich! Aber vielleicht sind oder stehen die aktuellen französischen Künstler ebenso wie unsre unter eigenem oder fremdem Druck.

Oktober 2017

LR:
Die Linken waren stets kaum widerlegbare, da extrem tautologische System-Denker. So etwa, wenn es darum ging und darum geht zu erläutern, warum ihre Inhumanität als die wahre Form der Menschlichkeit, ihre Repression als die eigentliche Freiheit und ihre Intoleranz als die ultimative Toleranz (der von Dir erwähnte Marcuse) begrüßt werden muss. Oder nimm Jürgen Habermas‘ „herrschaftsfreien Diskurs“: Wer an ihm gleichberechtigt und als ernst zu nehmender Gesprächspartner teilnehmen darf, bestimmen die linksorientierten Redaktionen in einer ziemlich eintönigen und kaum offen zu nennenden Medienlandschaft. Das linke In-Tautologien-Kreisen findet sich schon in Marx‘ „Expropriation der Expropriateurs“: Wer die „kapitalistischen“ Enteigner enteignet, nimmt nach Marx nur denen etwas weg, die zuvor anderen etwas weggenommen haben. Mit dieser sophistisch-intellektuellen Hochseilartistik lässt sich so gut wie alles moralisch rechtfertigen. Als ich noch ein Linker war, fand ich solche Tricks durchaus beeindruckend. Apropos „links“ und „Eigentum“: Neulich hörte ich im Deutschlandfunk (sie brachten das tatsächlich im Rahmen einer Nachrichten-Sendung), dass das Vermögen in so gut wie allen Ländern der Erde noch immer sehr ungerecht verteilt sei. Natürlich hätte es „ungleich verteilt“ heißen müssen, aber solch spitzfindige Unterschiede machen ja nur wir ewig Gestrigen.
xxxxxDeine sehr beiläufig, beinahe versteckt gemachte Bemerkung, dass das Politische als aggressive Zumutung erlebt werden kann (und von Dir so erlebt wird), würde ich gerne in kursivem Fettdruck hervorheben. Wer sich gerne streitet, kann sich derzeit über einen Mangel an Gelegenheit dazu nicht beklagen, egal ob er „rechts“ oder „links“ steht. Doch darf man sich nicht von jedem dahergelaufenen Meinungs-Muskelprotz in eine politische Straßenschlägerei verwickeln lassen. Das kostet Zeit und Kraft und führt zu nichts. Und für die künstlerische Arbeit ist es tödlich, so erlebe ich es jedenfalls.
xxxxxUm die Chance zu haben, „kreativ“ zu sein, muss ich entspannt, gelassen und nicht nur selbst-, sondern auch weltvergessen ans Werk gehen können. „Damn braces. Bless relaxes“ – die Pink Floyd haben das glänzend (wie Wolf Biermann sagen würde) bei William Blake abgeschrieben. Der feine, noch dazu paradox-widersprüchliche Doppelsinn im Doppelpack ist auf Deutsch kaum zu haben. In etwa bedeutet es: „Verdammt seien die Fesseln (aber auch: wer etwas oder jemanden verdammt, nimmt sich damit die Bewegungsfreiheit) – gelobt sei, was entspannt (aber auch: durch Loben oder Segnen oder Gutheißen entkrampft man sich)“. Ein wirkliches Sprach-Kunstwerk en miniature, wie ich finde. Letztendlich heißt das für mich: Kunst und Politik schließen einander aus. Ein politisch gemeintes Kunstwerk ist ein Widerspruch in sich. Selbst für Adorno, der bei den meisten nicht im Verdacht steht, ein Rechter zu sein, waren die gesellschaftlichen Widersprüche, die er hinter den Formproblemen der Kunst erkennen zu können glaubte, nichts, was der Künstler willentlich als etwas Wiedererkennbares in die Werke eingearbeitet hat. Sie, also die Antagonismen, „kehren wieder“ als Formprobleme der Kunst, war seine Formulierung. Das hat viel mit Gespenstern, aber nicht das Geringste mit Agitprop zu tun.
xxxxx„Damn braces, bless relaxes“, höre ich es hinter oder in mir flüstern. Was die französische bildende Kunst angeht: Wenn mir in Frankreich einmal im Rahmen einer zufällig besuchten Ausstellung ein Künstler aufgefallen ist, dann war es kein Franzose. So etwa vor Jahren in Avignon der Katalane Miguel Barcelo oder gleichfalls in Avignon der britische Land-Artist Richard Long. Ich fürchte, als bildende Künstler tendieren viele Franzosen zum Süßlichen und emotional und formal Überzogenen – und verwechseln es mit dem Heiteren und Lebens-Bejahenden, obwohl das eine mit dem anderen eigentlich gar nicht verwechselte werden kann, dachte ich jedenfalls immer. Bei den Italienern ist es ähnlich. Und doch sind Italien und Frankreich die beiden Länder, in die es mich am häufigsten gezogen hat und bis heute am stärksten zieht.

MS:
Dass es kaum ein Entrinnen aus Politik und Kunstpolitik gibt, merkte ich, als ich vor kurzem in den Badischen Kunstverein ging zur aktuellen Ausstellung von Lubaina Himid (Kunstprofessorin in Lancashire).
xxxxxThematisch – ich hörte die Glocken läuten – gehört ihre Kunst laut dem Begleittext in den gegenwärtigen „Diskurs um Migration, Rassismus, Sklaverei“ und so weiter. Himid ist gebürtige Tansanierin und aktiv in einer sogenannten Black Arts Bewegung. „Fragen zur Identität und Herkunft sowie zum Verlust von kollektivem Wissen“ (wieder Begleittext) sind ihr ein Thema. (Identität ist heute wohl allseits angesagt. Die Suche danach wird aber, scheint mir, nicht allen umstandslos zugestanden. „Identitär“ hat nur einen anderen Buchstaben, und schon ist der Teufel los.)
xxxxxEs war dann aber für mich halb so schlimm. Und ich sah, dass sie mit üblichen und herkömmlichen Mitteln hantiert. Etwas wie pop art ließ grüßen, ich dachte an Peter Blake oder andere. Drei große neue Bilder waren sogar fast klassisch ausgewogen komponiert, ruhig, klar in der Raumauffassung und mit großzügig unaufgeregter, angenehm freier Anordnung der Personen auf der Malfläche. Malerisch und zeichnerisch kam es im Vortrag teilweise recht naiv daher. So was, wenn es gewollt ist, wäre raffiniert, also das wäre dann schon kritisch zu sehen, oder deckte etwas auf. Mir gefielen diese drei ihrer Werke recht gut.
xxxxxEs sind nun eben auch, wie Du anführtest, diese Formen und ihre Probleme, die was aufzeigen, an denen etwas ablesbar wird. Ich dachte, durch das Betrachten etwa der Faktur der Malerei (der Text des Kunstvereins ging gar nicht auf das „wie“ ein) war mindestens ebenso viel zu erkennen wie durch das Wissen um die Themen. Selbst wenn heute angeblich alle Kriterien flöten gegangen sind, kann ich immer einiges ablesen aus der Art, wie gemalt und gestaltet wird. Aber – die reine Malerei selbst war wohl kaum der Grund zu dieser Ausstellung.
xxxxxIch trat in die Räume und dachte, ja, das sind afrikanische Farben oder Farbkombinationen, und wusste zwar nicht, ob ich das wegen der Vorinformationen dachte, oder ob der Eindruck unvermittelt da war. Ich halte letzteres aber für möglich, und es ist schön, dass es so was gibt. Moderne Kunst hat oder hatte zwar einen internationalen Anspruch und nicht den der (Re-)Regionalisierung, wollte keine Kunst der Stämme und Landschaften, wie sich einer mal ausdrückte. Aber dass es Sachen gibt, die in eine Vergangenheit reichen oder aus ihr schöpfen können, vielleicht sogar eine Art innere Natur sind, empfinde ich doch als einen gewissen Trost.
xxxxxIn meinem Fall suche ich manchmal auch herauszufinden, aus welcher persönlichen Prägung, welchen Eindrücken etwas herrührt, was ich hervorbringe. Gelegentlich stelle ich mir zusätzlich sogar vor, es gelänge mir eines Tages, auf die sichtbare Welt im Sinne eines Abmalens einzugehen. Denn das sind, wenn es bei mir dazu kam, einzelne Aktionen gewesen, meist zeichnerischer Art. Und es ist mir beispielsweise in den letzten paar Jahren, als ich zusätzlich immer wieder an einem halbwegs bekannten oberitalienischen See war, nicht in den Sinn gekommen, oder mit meinem Willen gelungen, solche Natur direkt abzumalen. Das erwähne ich nur, weil ich das durchaus schön fände. (Es gilt natürlich für alle Natur und für jede Umgebung.) Außerdem weiß ich, dass Du Deinerseits hier keineswegs zögerst.

LR:
Es ist mir noch nie der Gedanke gekommen, dass der Verzicht auf das sprachlich oder besser: lexikalisch benennbare Gegenständliche im Bild, also die Entscheidung gegen das Abmalen oder Abzeichnen von Natur (in einem allumfassenden Sinn), wie Du es nennst, etwas mit einem Zögern oder einer, wenn ich das sagen darf, Scheu zu tun haben möchte. Fast könnte man meinen, Du schreckst vor einem Tabubruch zurück?
xxxxxIch bin froh, dass Du uns thematisch wieder auf den rechten Weg, nämlich zum Malen und zum Zeichnen, zum Making-of (wie man den Film über den Film nennt) zurückgeführt hast. Denn das ist doch unser eigentliches Thema. Und es ist ein schweres und abgründiges Thema, sobald man wahr und wahrhaftig darüber reden oder lieber noch: davon erzählen will. Wie viel simpler und stupider ist es dagegen, einen politisch-sozialen Kontext zu postulieren, in dem das Making-of zur quantité négligeable wird. Man knüpft an die zum „Diskurs“ überhöhte selbstreferenzielle Blasenproduktion der Linken an und stellt idealisierte Haltungen und gewähnte Positionen aus, die mit dem wirklichen Leben und der Realität der Werke beinahe nichts, mit dem „Parteibuch“ (ich meine das auch metaphorisch) der Ausstellungsmacher und vieler Werk-Autoren dagegen sehr viel zu tun haben. Dass sich die Wirklichkeit der Werke gegen deren kuratorischen Missbrauch, wie Du es im Badischen Kunstverein erlebt hast, durchzusetzen vermag, ist absolut großartig und stimmt geradezu euphorisch. Dies alles aber nur in Klammern gesagt.
xxxxxDu fändest es schön, sagst Du, wenn Du zeichnerisch und malerisch auf Welt und Natur eingehen könntest. Doch momentan zögerst Du noch. Dein Zögern scheint mir ein metaphysisches oder idiosynkratisches zu sein. Wahrscheinlich ähnelt es nicht im Geringsten jenen Hemmungen, die ich habe, wenn es darum geht, zum Stift zu greifen und ETWAS zu zeichnen. Bevor ich mich dann doch dazu überwinden kann, halte ich es jedes Mal aufs Neue für vollkommen unmöglich. (Ich übertreibe ein wenig, aber nur ein wenig.)
xxxxxHeute scheint das Schwere mein Leitmotiv zu sein: Die Überwindung der Schwere-Kraft und der wunderbare Zustand danach (ein Schweben-in-und-über-den-Dingen) – das ist es, was für mich das Abzeichnen und Abmalen (wie entfernt vom lexikalischen Gegenstand es sich mitunter auch abspielen mag) zum ersten und letzten Grund meiner „künstlerischen“ Tätigkeit macht. Das war so am Beginn meines post-infantilen zeichnerischen und malerischen Tuns und heute ist es wieder so. Vielleicht muss ich auch sagen: heute erst ist es wirklich so. Dazwischen liegen viele Jahre der weitgehenden Selbstverfehlung. Ich habe unterstellt, ich sei schon längst in meiner Post-Infantile angekommen. Wahrscheinlich stimmt das nicht. Als „Künstler“ bin ich vermutlich, wo es ums Wesentliche geht, infantil – oder ich bin Artist. Und dann wohl einer, der darauf besteht, Kunst-Stücke zu machen, die er nicht wirklich beherrscht und womöglich nie beherrschen wird. Kürzlich habe ich an anderer Stelle notiert, für mich sei das Einstudieren und Proben generell reizvoller als die eigentliche Aufführung, Aufführungen seien nur ein notwendiges Übel. Anders gesagt: Werke sind nur wichtig, weil wir sie schaffen wollen. Das ist keine Paraphrase der populären Pseudo-Weisheit, dass der Weg das Ziel sei, denn der Weg zum Werk ist nicht das Werk, auch wenn mir das Unterwegssein noch so viel bedeutet.

MS:
Mein Zögern metaphysisch zu nennen, gefällt mir schon sehr. Es gibt in meinem Leben ein permanentes Zögern, meist sehe ich zwei gleichwertige Möglichkeiten; bei anstehenden Entscheidungen schiebe ich diese auf. In Schulzeiten meinte einer, der Beiname „cunctator“ des Quintus Fabius Maximus (Feldherr im Zweiten Punischen Krieg) würde auch auf mich passen. Der Zögerer, der Zauderer. Ich muss noch rettend anführen, dass später das Skrupulöse uns Studenten vom Kunstprofessor tief eingeimpft wurde. Sodann wäre eine Entscheidung fürs Abbilden ja stets eine Entscheidung für dieses oder gegen jenes Abbild – was natürlich kein Gegenargument ist. Und eine gewisse Abneigung gegen das Produzieren erklärt vielleicht auch noch nichts. Passivität gegen Aktivität; oder besser Kontemplation? Der Hang zum Abstrakten, Reinen, Beruhigten, meinetwegen Anorganischen?
xxxxxWir hatten an der Akademie seinerzeit ein Kopfmodell, eine ältere Frau. Auf meinen Zeichnungen sähe sie aus wie ein junges Mädchen, meinte mein Professor. Bei soviel Hang zum Idealisieren war ich doch das Gegenteil eines Realisten wie Menzel, der einen schönen jungen Menschen wegschickte: er möge wiederkommen, wenn er alt und runzlig sei.
xxxxxAber ich sehe schon, auch das ist noch keine Erklärung. Es ginge darum, von Innerem Abstand nehmen zu können und frei zu sein für die Außenwelt. Auch gibt es Unterschiede im Naturell. Adam Elsheimer und (zunächst auch) Claude Lorrain etwa kannten kein Skizzieren nach der Natur. Die floss über die Beobachtung ein (Sandrart schreibt, dass C. L. „vor Tages bis in die Nacht im Felde lag“), und das ist bei mir unter Umständen auch der Fall.
xxxxxDas mit der Schwere, sei es Last oder Schwierigkeit, oder einfach irgendwie Gewicht, versuche ich nachzuvollziehen oder zu verstehen. An sich empfinde ich so was ähnliches auch; etwa wenn ein Ziel erreicht ist, oder kurz davor, wenn es (und sei es nur als Vision) auftaucht; eine Euphorie – ich sehe diese hier positiv – kann sich einstellen, die durchaus vieles aufwiegt. Wie schnell ist sie oft wieder verflogen, aber dass sie da war, ist nicht schlecht. Der Enthusiasmus verfliegt auch, aber es gibt ihn.
xxxxxWas die Probe und so weiter allerdings von der Aufführung am meisten unterscheidet, ist das Publikum. Darauf würde ich manchmal gern verzichten.

LR:
Gegen das Publikum als applaudierendes habe ich nichts. Regelmäßig mulmig wird mir aber bei den Gesprächen im Umfeld von Ausstellungen, also etwa nach der Einführungsrede bei Eröffnungen oder bei „offenen Ateliers“, oder wenn zum Beispiel während der „Karlsruher Künstlermesse“ oder sonst irgendwo das Publikum Gelegenheit haben soll, mit dem Künstler ins Gespräch zu kommen. Das Entmystifizierungs- und Säkularisierungsprogramm der egalitaristischen Moderne will, dass der Künstler „einer von uns“ ist. Das drückt sich dann im Arrangieren von situativen Kontexten aus, wo das Publikum dem Künstler „auf Augenhöhe“ begegnen können soll. Zugleich soll man als Kreativer aber etwas Besonderes sein und bleiben. Die hervorhebende Auszeichnung bleibt als negierte erhalten, sie existiert in ihrer Leugnung fort.
xxxxxIn Gesprächen mit dem Publikum ist man als Künstler demnach gehalten, ganz Mensch und ganzer Künstler und permanent kreativ inspiriert zu sein. Ich glaube, es gelingt nur wenigen sozusagen trinitarisch Begabten, diesem doppelten und dreifachen Anspruch gerecht zu werden und ein authentisch wirkendes Sowohl-als-auch in Szene zu setzen. Das Gewöhnliche und das Heilig-Transzendente untrennbar vereint haben zu wollen, ist wahrscheinlich der abendländisch-christliche Wunschtraum schlechthin – das Christentum ist vorweggenommene Romantik. Wenn es einem in der Kunstszene Agierenden gelingt, die profan-sakrale Doppelnatur überzeugend zu verkörpern und damit Träume wahr werden zu lassen, kann er an die Wand hängen und in den Raum stellen, was er will. Er darf sich nur nicht allzu weit von seinen Werken entfernen, sprich: zwischen dem Werk und seinem auratischen Schöpfer, also dessen Wirkung auf ein Publikum, muss eine nachhaltige Verbindung hergestellt werden. Darin besteht dann die eigentliche Kunst.

MS:
Eröffnungen sind echte Arbeit und der Austausch mit dem Publikum Nervensache. Mit mehr Sendungsbewusstsein oder mehr Schauspielkunst hätte ich, hätten wir es leichter. Aber ich habe schon einen gewissen Abstand zu meinen Werken, auch Zweifel, gewaltige sogar. Nehmen wir mal an, Gespräche nach oder bei Eröffnungen, Reden und so weiter wären formalisiert, wie eine Fragestunde nach einem Politikerauftritt. Das wäre einfacher, aber so geht das natürlich nicht, denn alles soll ja „zwanglos“ sein, ganz so wie Du es treffend kritisch beschreibst.
xxxxxIch möchte bei der Gelegenheit altmodisch zwischen christlich und katholisch unterscheiden. Der Katholik hat – Gott sei Dank – die Doppelmoral. Es gibt himmlische und irdische Wahrheiten, Anspruch und Handeln sind gar nicht identisch, da wäre jeder überfordert. Der Wunschtraum, den Du ansprichst, er kommt mir protestantisch vor. Der Idealzustand ist zwar anzustreben, aber nicht zu verwirklichen.
xxxxxDass alles Kunst ist, dass Leben und Kunst sich nicht unterscheidet, sich nicht unterscheiden soll, erscheint mir auch als so eine moderne falsche Idee, falsch wie etwa der Kommunismus und sein klassenloses Reich hienieden (denn danach kommt ja nichts).
xxxxxDie enge Verbindung Künstler – Werk: wenn der Künstler sie nicht durch die von Dir genannte Personalunion zustande bringt, schafft sie vielleicht der Laudator als eine Art Aaron neben Moses, der bekanntlich ein Mann schwerer Zunge war. In meinem alten dtv-Taschenbuch von dem letzthin schon angeführten A. P. Gütersloh („Der innere Erdteil“) steht unter „Methode, Unsere“:
xxxxx„Unsere Methode ist sehr einfach: wir malen ein Bild, treten zurück, und erklären es uns und den Leuten. Das heißt: wir versuchen das, was als Kunst in die Natur gekommen ist, als wieder eine Natur erscheinen zu lassen, und mit der Übernatur aufs Neue zu verbinden. Das Bild ist zwar selbst schon Erklärung nach oben und nach unten und Verbindung des Oben mit dem Unten, es ist jedoch noch nicht die letzte Erklärung, und bewerkstelligt noch nicht die letzte Verbindung; weswegen die jeweils wenigstens vorletzte zu geben und die jeweils wenigstens vorletzte zu knüpfen möglich ist und, wenn möglich, dann auch Pflicht. Weil die absolut letzte Erklärung und die absolut letzte Verbindung einzig und allein durch den sich offenbarenden Gott gegeben und vollzogen wird, und dies zu einer Stunde, die wir nicht kennen, darf nichts, was – wenn auch unter außerordentlichen Anstrengungen – noch rational erklärt und noch logisch verbunden werden kann, ihm überlassen bleiben, als wäre dies seines Amtes.“
xxxxxAm Ende heißt es noch: „Das Bild erweist einen Maler. Den großen Maler jedoch erweist, dass derselbe bei seinem Aufschwung in die ihm zugänglich gewordenen Teile des Himmels das schöne, ja auch das schönste irdische Bild mit Füßen tritt.“
xxxxxWir treten zurück: worst case: wenn wir uns neben unserem Werk ablichten lassen müssen, vielleicht für den Ortsteil der Zeitung.

LR:
Ich stimme Gütersloh zu, wenn er sagt, wir dürfen in unseren Versuchen, die Welt rational zu erklären nicht nachlassen. Das ist die genuin menschliche Aufgabe, sofern wir Wert darauf legen, uns als Exemplare der Spezies homo sapiens zu begreifen. Worin ich auch mit ihm übereinstimme: erklären heißt Verbindungen herstellen, also ein Beziehungssystem modellieren. Deshalb gibt es auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer Erklärung und einer Beschreibung. Was er da mit seinem Oben und Unten will, kapiere ich nicht so ganz. Falls mit dem Oben eine „höhere Sphäre“, etwas Transzendentes gemeint sein sollte, würde ich einwenden: das Transzendente ist nicht oben, sondern jenseits von oben und unten, rechts und links (auch wenn für einen Großteil der Kirchenfunktionäre das Transzendente mittlerweile links steht, gegen rechts wettert und dabei grünlich leuchtet).
xxxxxDieses „Oben“ kann niemals Teil eines erklärenden beziehungsweise beschreibenden Beziehungssystems sein. Ich glaube daher auch nicht, dass Gott uns am Ende aller Tage die letzte Erklärung liefern und den letzten Grund nennen wird. Wenn es einen Gott „gibt“, dann hat SEINE Wirklichkeit absolut nichts zu tun mit allem, was im Rahmen von Beschreibungs- und Erklärungsmodellen feststellbar wäre. Güterslohs Gottesbegriff ist möglicherweise eine letzte, typisch moderne Projektion im Feuerbachschen Sinn: ER als der ultimative Teilchen-Physiker, der uns zuletzt die Weltformel verrät, nach der Stephen Hawking bis ans Ende seiner Tage vergebens suchen wird. Die Welt als verstandene und verstehbare ist ein wissenschaftliches Konstrukt. Der Schöpfer hat damit nichts zu schaffen. Aber ich schweife ab.
xxxxxWas mich bei Gütersloh, dem Maler und Schriftsteller, des weiteren verwirrt, ist seine Auffassung vom Kunstwerk als Erklärung – für mich: als Bestandteil des Weltbeschreibungssystems. Damit kann ich nichts anfangen. Seine, Deine und meine Bilder erklären nichts, sondern sie sind. Wie Gütersloh richtig sagt, sind sie etwas, „was als Kunst in die Natur gekommen ist“. Man kann und soll meinetwegen versuchen, diese Gebilde erklärend ins rationale Beziehungsgeflecht „Welt“ zu integrieren. Die Werk-Autoren können dazu einen Beitrag leisten, wenn ihnen danach ist. Wobei ich meine, dass wir uns in unserem eigenen Interesse nicht an Spekulationen über verborgene Gehalte oder im Werk wiederkehrende ungelöste soziale Antagonismen oder psychische Konflikte und so weiter beteiligen sollten. Ich bin immer entzückt über auktoriale Auskünfte wie: Nein, in diesem Blaugrün kehrt nicht die Augenfarbe der Hebamme bei meiner Geburt wieder, sondern es war ein Sonderangebot bei Boesner. Bei der Arbeit an einem rationalen Weltmodell ist Desillusionierung eine unverzichtbare flankierende Maßnahme. Ich weiß nicht, ob Gütersloh das meinte, als er sagte, beim Aufschwung in seine kleine Parzelle im Siebten Himmel der Kunst trete der Künstler noch das schönste Bild mit Füßen? Wohl eher nicht. Vielleicht kannst Du mir auf die Sprünge helfen?

November 2017

MS:
Mir gefällt sein Fabulieren! Ich habe diese Schrift in meiner jugendlichen Vor-Akademiezeit kennengelernt. Es ist eine Welt mit Hierarchien und mit Wörtern wie Himmel und Gott, also mit Vertikalem statt nur Horizontalem. Als vielseitiger Künstler und Schriftsteller (und auch Theatermann) war er wahrscheinlich kein Befürworter der Desillusionierung. Er formuliert in einer (wie mir scheint) barock-sinnlichen Ausdrucksweise. Er wollte bestimmt nicht am rein rationalen Modell arbeiten. Er hatte aber eine akribische Art, eine penible Malweise, die sich auch auf seine Wiener Schüler (die er einmal „Phantasmagoriker“ nannte) fortpflanzte. Ich kenne nicht sehr viel von ihm, aber vermutlich ist das mit dem Füßetreten metaphorisch und direkt zugleich aufzufassen. Verachtung gegenüber Materiellem kann man ihm wohl nicht vorwerfen, Bilder sind hier eher die Stufen der Himmelsleiter.
xxxxxRatio, Vernunft, ist nötig, aber kann sich der Verstand nicht auch täuschen, und genügt er? Die Wissenschaft ist doch so, dass sie methodologische Maximen hat, etwa das Verbot teleologischer Erklärungen; und auch einen methodischen Atheismus, also dass sie die Hypothese Gott ausschließt. Widerlegt hat sie dessen Existenz vorher natürlich nicht. Ich würde als Künstler nicht sagen können: „Die gesamte Realität besteht nur aus natürlichen Dingen; in der Realität gibt es weder Götter noch Geister noch Seelen noch andere übernatürliche Mächte und Kräfte …. letztlich sind es die Wissenschaften, die uns sagen, was es in der Welt gibt und wie das, was es gibt, beschaffen ist“ (hat ein Ansgar Beckermann formuliert). Der alte A. P. Gütersloh rechnete seinerzeit noch mit Gott, Geist und Seele. Wenn Bilder Mittel der Erkenntnis sind, ist das eine sehr hohe Wertschätzung.
xxxxxIch denke, trotz meiner Nähe zur konkreten Kunst, dass Bilder abbilden, etwas bedeuten, mehrere Ebenen haben. Das blaugrüne Sonderangebot wäre kein Widerspruch. Schwierig ist aber für mich die Eigeninterpretation. Bei fremden Werken fällt es mir oft leichter.

LR:
Du führst mich in Versuchung, eine philosophisch-erkenntnistheoretische-und-so-weiter Debatte mit Dir zu beginnen beziehungsweise diese fortzusetzen, denn es wäre ja nicht das erste Mal, dass wir ins metaphysische Fahrwasser geraten würden. Aber gerade weil die Versuchung groß und der Reiz äußerst reizend ist, schlucke ich die meisten meiner Wider-Worte runter. Bis auf eines vielleicht (falls das überhaupt ein Wider-Wort ist): Ich finde, man kann es der Wissenschaft nicht verübeln, dass sie mit einem, der in formelhafter Kürze (wie an zukünftige Physiker adressiert) von sich selbst sagt „ich bin, der ich bin“ (2. Mose 3, 14), nichts anzufangen weiß. Wissenschaftliche Beschreibungen sind immer tautologisch, weil auf der linken Seite der „Gleichung“ implicite das gesagt wird, was auf der rechten Seite entwickelt, also in anderen Worten explizit gemacht wird. Der tautologische Kurzschluss aber („1 = 1“ oder „ich bin = ich bin“) darf nicht damit rechnen, in ein wissenschaftliches System integriert zu werden, denn dass „eins“ dasselbe wie „eins“ meint, versteht sich direkt und unmittelbar von selbst, während die Mitteilung, eins und zwei sei drei, erst für den zur Tautologie wird, der das mathematische System in extenso überblickt und intensiv verinnerlicht hat. Nicht die Wissenschaft schließt Gott aus ihren Kreisen aus, sondern mit der tautologisch begründeten Exklusivität, die ER für sich beansprucht, grenzt er sich selbst aus – sagt er doch nichts anderes als: Ich bin keiner, dem ihr wissenschaftlich beikommen könnt. Gott ist eine Art Gegenteil der quantité négligeable, nämlich eine quantité incommensurable. Und da das Quantifizieren und Messen in der Wissenschaft alles ist, kann sie mit SEINER „maßlosen“ Seinsweisen nichts anfangen, kann diese nicht in ihr System integrieren – ohne sich dafür rechtfertigen oder die Existenz dieser singulären Realität widerlegen zu müssen, denn der „Fehler“ liegt nicht bei ihr, sondern bei IHM.
xxxxxWie ich schon habe anklingen lassen, ziehen mich solche intellektuellen Puzzle-Spiele magisch an. Obwohl das logisch-philosophische Propädeutik und nicht wirklich spannend, sondern am Ende trivial ist und man sich fragt, was man denn eigentlich weiß, wenn man beispielsweise weiß, dass und warum Gott und die Wissenschaft nicht wirklich gut miteinander können können.
xxxxxNicht trivial finde ich die von Dir aufgeworfene Frage nach dem illusorischen, um nicht zu sagen: dem wahnhaften Moment in der Kunst, aber auch im sogenannten Leben. Gütersloh sei als Künstler wahrscheinlich kein Befürworter der Desillusionierung gewesen, hast Du vermutet. Vermutlich hast Du recht. Wenn sich ein geborener Kiehtreiber als Künstler Gütersloh und dann statt Albert Conrad auch noch Albert Paris nennt, darf man wohl eine gewisse Affinität zum Illusorischen unterstellen.
xxxxxWahn und Wirklichkeit, Illusion und desillusionierende Vernunft (heute meistens missverstanden als Kotau vor der Statistik) werden üblicherweise als diametrale Gegensätze gesehen. Über die Feiertage (Luther-Sonder-Feiertag und Allerheiligen) habe ich Nietzsches Groß-Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ gelesen. Der Dreißigjährige redet darin wie ein verspäteter Romantiker (der allerdings psychologische Studien getrieben hat) dem Geheimnisvollen, ja dem Atmosphärisch-Wahnhaften das Wort und schreibt: „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen, ‚die nie ohn‘ ein’gen Wahn gelingen‘, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt.“
xxxxxDer Wahn stünde damit im Dienst einer noch zu schaffenden Wirklichkeit und sich Illusionen zu machen, wäre das Gebot einer Vernunft, die sich um ein zuträgliches Wohn- und Arbeits-Klima sorgt. Ich gestehe, dass mir das gut gefällt, obwohl ich mich (trotz einer gewissen Neigung zum Sentimentalen und einer ausgeprägten Schwäche fürs Pathetische) zugleich für einen hartgesottenen Rationalisten und akribisch sezierenden Apologeten der Analyse halte. Das Auf-die-Knie-Sinken vor der Faktizität hat doch etwas von einem unwürdigen Götzendienst. Noch schlimmer wird es, wenn die Anbetung des Tatsächlichen hinausläuft auf eine Affirmation des Übels, von dem man sich, in sozio-homöopathischem Irrglauben befangen, eben dadurch Erlösung verspricht. Dass wir uns als Künstler daran nicht beteiligen und stattdessen Illusions-Treibhäuser des Gedeihens, ja der prosperierenden Opulenz in die Kunst-Landschaft stellen, sollte eigentlich Ehrensache und moralische Verpflichtung sein. Ich meine, bei Gütersloh etwas in diesem Geist Geschaffenes gesehen zu haben, auch wenn mir vieles österreichisch und fremd bleibt.
xxxxxNatürlich ist damit noch nicht die Frage beantwortet, welcher Wirklichkeit man mit der Kunst-Illusion auf die Sprünge helfen will. Gestern sah ich im TV die erste Folge einer neuen deutschen Krimi-Serie: Der Kommissar war schwul, die Co-Kommissarin alleinerziehende Mutter und eine Gruppe illegaler Migranten wurde zunächst aus höchster Not errettet und sollte danach mit einem dauernden Bleiberecht ausgestattet werden. So stellt man sich bei den Öffentlich-Rechtlichen offenbar die europäische Zukunft vor. Ist das jetzt fruchtbarer Wahn oder einfach nur furchtbarer Wahnsinn?

MS:
„Und ist’s auch Wahnsinn, hat es doch Methode“! So steht’s doch irgendwo bei Shakespeare. Ich finde dies den passenden Spruch zur Mache des „Lehrstücks“, das Du gesehen hast. Und aus diesem geschilderten Wahnsinn zu erwachen, ist irgendwann, vielleicht schon jetzt, nicht mehr möglich. Sollen sie doch beim Kommissar einziehen, die Berechtigten! Ich selbst habe auch schon solche Filme, etwa im Kino, gesehen, „Willkommen bei den Hartmanns“ oder so ähnlich.
xxxxxIch will nicht ständig mit diesem von mir oft geliebten, mir aber auch oft tatsächlich unerträglichen „Österreichischen“ aufwarten, hier passend aber noch erwähnen, dass einer dieser Gütersloh-Schüler, Ernst Fuchs (dem ich auch einmal, etwa 1980, als damaliger Fan im Kunstverein Wiesloch-Walldorf begegnete, in seiner Ausstellung und gemeinsamen Lesung mit Hilde Domin), einen Vortrag veröffentlichte: „Der Wahn als künstlerische Erkenntnis“. Darin zitiert er eingangs Sokrates: „Der Dichter ist ein leichtes, beflügeltes und heiliges Wesen, und da ist keine Erfindung in ihm, bis dass er begeistert ist und und von Sinnen und die Vernunft nicht mehr bei ihm.“ Im Sinne Nietzsches, um nicht zu vertrocknen, umgebe ich mich gern mit dem Dunstkreis, der Atmosphäre des Vergangenen. (Übrigens habe ich den Eindruck, dass auch die Wissenschaftler nicht auf so was verzichten. Sie sprechen von ihrem „Reich“ im Gegensatz zur „Finsternis“ (J. Monod), es klingt wie Religion.)
xxxxxDas „graue Alter“ (so Hans Pfitzner im Palestrina) hat mich eher nüchtern gemacht, und selten überkommt mich das, was Pfitzners Palestrina dann doch erlebt: „die Messe – ich schrieb sie in einer Nacht!“ Wir hatten’s, von Dir angesprochen, weiter oben im Dialog schon davon (das Numinose) … Also das Bildermachen ist eine recht normale Angelegenheit, vor allem was die Wirkung angeht, die ich erwarten kann. Wohn- und Arbeitsklima … das ist bei mir in manchem biedermeierlich aussehender Rückzug. Aufs große Ganze zu blicken, ist ja echt wenig erheiternd. Ein Ende des (mehr) Multi (als) Kulti ist kaum in Sicht. Aber klar zu sehen, was ich nicht will, ist viel wert; und zu erkennen, was ich wirklich schätze, auch!

LR:
Wenn der Vater meiner Mutter nicht auf der Krim in russische Kriegsgefangenschaft und in dieser auf unbekannte Weise zu Tode gekommen wäre, wäre meine bei Kriegsende zehnjährige Mutter in einem relativ komfortabel ausgestatteten Schreiner-und-Glasermeister-Haushalt (und im eigenen Haus) aufgewachsen. Sie hätte dann zwar Klavierstunden, aber wahrscheinlich keinen um seine berufliche Zukunft ringenden Holzbildhauer-Gesellen zum Ehemann genommen. Und wenn doch, wäre sie von ihm wohl kaum vor der Zeit, sprich: vor der Hochzeit, (mit mir) schwanger geworden. Auf Seiten meines Vaters hält die Biographie einen ähnlichen mit sozialem Abstieg verbundenen Bruch fest. Auch sein Vater (erst selbständiger Kaufmann, dann bei der Reichspost Beamter) kam von der Ostfront nicht wieder zurück, was praktisch die vorzeitige Auflösung der großen Kleinfamilie (insgesamt fünf Geschwister) zur Folge hatte, denn die älteren Geschwister (drei Jugendliche um die 15 Jahre, unter ihnen mein Vater) mussten sich nach 1945 irgendwie alleine durchschlagen, während die Mutter mit den beiden kleineren Kindern eine Art Rest-Familie oder Familien-Rest mehr schlecht als recht am Leben erhielt. Und so weiter.
xxxxxWas tut das zu unserer Sache, welche immer das sein mag? Alles und nichts, würde ich sagen. Wir sind beide in einer Zeit aufgewachsen, als die Mär von der Bedeutungslosigkeit der familiären Herkunft zu den wachstumsfördernden, von der Politik und den Medien in bester Absicht und nicht ohne positive Wirkung erzählten Lügenmärchen gehörte. Eine Lüge war es, weil es nur die halbe Wahrheit war und ist. Man hätte eigentlich dazusagen müssen, dass das Gegenteil ebenfalls wahr ist, nämlich dass es durchaus eine bedeutende Rolle spielt, aus welchem Stall einer kommt, um es landwirtschaftlich oder hippologisch auszudrücken. Aber dann wäre die Illusion nur noch eine halbe Illusion und ihre Wirksamkeit womöglich ganz dahin gewesen. Dieser als schützende Sphäre über meine gesamte Gymnasialzeit sich wölbende ideologisch-illusionären SPD-Dunst-Glocke, diesem kollektiven Gleichheits-Wahn, dieser Kräfte freisetzenden Halluzination haben meine Eltern, die es beide besser wussten, nichts entgegen gesetzt. Wie ein Familien-Geheimnis hüteten sie ihr besseres Wissen um die schicksalhafte Bedeutung des Genealogischen und behielten all die unschönen Details weitgehend für sich. Vielleicht wollten sie es selber glauben, dass die Herkunft von nun an keine Rolle mehr spielte, und der domestizierte Wahn-Sinn hatte ja auch, wie schon mehrfach gesagt, durchaus sein Gutes.
xxxxxIch will, obwohl ich einen sehr langen Anlauf genommen habe, jetzt nicht die biographische Summe meines bisherigen Lebens ziehen, sondern nur einen kleinen gedanklichen Sprung wagen, der für mich immer noch groß genug ist. Auf mein aktuelles künstlerisches Tun und Lassen bezogen denke ich, dass es an der Zeit wäre, endlich doch noch aus dem juvenilen, hypnoseartigen Gleichheits-Wach-Traum (in dem ich, wie mir scheint, immer noch befangen bin) zu erwachen und das Mich-Unterscheidende Kontur werden zu lassen und ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Die Feststellung, dass Künstler per se „eigensinnig“ und „Individualisten“ seien, ist nämlich eines der lächerlichsten und unbegreiflichsten, da jeglicher Erfahrung Hohn sprechenden Klischees, die seit der Erfindung des „Künstlers“, des „Individualisten“ und anderer Sozial-Masken kolportiert werden. Als jemand der malt, bildhauert, filmt oder schreibt, ist man aufgrund dieser Tätigkeiten weder eigensinnig noch Individualist. Jede Fleisch-und-Wurst-Waren-Verkäuferin nimmt sich mehr Freiheiten heraus als ein Künstler, der nach Ansehen und Erfolg strebt, um nicht zu reden von der Masse derer, die unbedingt dazugehören und auch „Künstler“ heißen wollen.
xxxxxWenn Du mich fragst, was das konkret bedeutet, kann ich nur antworten: Das weiß ich nicht so genau. Ich kann Michael Schneider zitieren und sagen: „Aber klar zu sehen, was ich nicht will, ist viel wert; und zu erkennen, was ich wirklich schätze, auch.“ Und ich füge hinzu: Als „Künstler“ habe ich derzeit in der Tat nichts zu verlieren und zu mehr als nichts kann ich es überall und mit allen möglichen Mitteln bringen – ob das dann allgemein als „künstlerisch“ oder „zeitgenössisch“ oder „legitim“ oder sonstwas anerkannt wird oder nicht, braucht mich fürs erste (und zweite) wirklich nicht zu interessieren.

MS:
Der Holzbildhauer hat später in Rintheim in Sankt Martin ein großartiges Kruzifix hinterlassen, dem die Kirche nicht gewachsen ist. Der war ein Glück für Deine Mutter, schätze ich. Ihre Väter, Deine Großväter, kamen also nicht aus dem Krieg zurück, worauf ich mit größter Achtung blicke. (Mein eigener Vater – Spross eines Bauernhofs – war Jahrgang 1918, machte Frankreich- und Russlandfeldzug mit und hatte das Glück heimzukehren.) Ich kenne jemanden, dessen erste Frage an seine Töchter bezüglich deren Ehe-Anwärter war: „Beruf des Vaters?“ Da hast Du ehrenwerte Karten.
xxxxxDas Genealogische, die Herkunft, die Klasse sind entscheidend, sag ich mir wohl auch. Ich war zu meiner Zeit an der Kunstakademie einer von drei Studenten aus Arbeiterhaushalten. Hätte ich nach dem Ersten Staatsexamen das Referendariat angetreten und auf diesem Weg weiter den Gang in die Institution, könnte ich mich heute bald einer angenehmen Pension erfreuen. Insofern hätte das gute Ziel dieser Politik, Zugang zur Bildung zu ermöglichen (ich erhielt BaföG) und somit gesellschaftlichen „Aufstieg“, in meinem Fall durchaus mit letzterem Ende erreicht werden können. Aber ich habe mich, aus verschiedenen Gründen, anders entschieden; wer weiß, ob fürs freiberufliche Künstlerdasein meine Voraussetzungen gut waren. Den von Dir genannten Klischees oder den ihnen vergleichbaren bin ich insofern erlegen, als mir dieser Unterschied zwischen freiem und freiberuflichem Künstler möglicherweise nicht klar genug war. Das war auch eventuell mein Glück. Wer hätte das klarmachen können, mein Akademieprofessor jedenfalls nicht. Ich habe aber viel wohlwollende Förderung erfahren. Welcher Klasse ich als Künstler zuzuordnen bin, bestimmt das Einkommen Gottseidank nicht allein. Lebenswichtiger ist außerdem der alte Satz des Cicero, dass ein Leben ohne Freundschaft keins ist: „sine amicitia vita nulla est“.
xxxxxWären meine Dinge plötzlich in einem Ausmaß interessant, wie es bei den Aufsteigern im Kunstmarkt der Fall ist – was gar nicht eintreten kann –, wie sollte ich reagieren? Ich bin mir sicher, dass dieser Kelch an mir vorübergeht. Auch mir ist es wenig wichtig, „künstlerisch“, „zeitgenössisch“ und so weiter, wie Du es nennst, zu sein.
xxxxxVielleicht ist es von Interesse, geistesverwandte Leute oder Werke nennen zu können. Mir selbst fällt das gar nicht leicht – ich weiß nicht wie es Dir geht –, denn ich sehe bei Ähnlichem sofort mehr den Unterschied, oft zu Unrecht.

LR:
Wahrscheinlich bin ich in vielem mimetischer veranlagt als Du es bist. Lange Zeit habe ich der Malerei (jener, die es schon länger gibt, wie auch der, die erst seit kurzem integriert werden will) nur sehr sporadisch meine Aufmerksamkeit geschenkt. Das war, wie mir jetzt klar wird, ein Versäumnis. Es ist dadurch ein Mangel entstanden, der in meinem Alter nur mühsam kompensiert werden kann. Vielleicht sollte ich auch mühselig beziehungsweise Mühe-selig sagen, denn eine Neigung zur Ponophilie, zur Mühe-Liebe, welche ich mir gelegentlich nachsage, kann ich nicht abstreiten.
xxxxxWas ich aber sagen wollte: Bei meinen kunsthistorischen Exkursionen (die Kunstgeschichte beginnt für mich immer gestern) begegne ich gewissermaßen auf Schritt und Tritt Werken, die ich auch gerne geschaffen hätte. Und wenn es nicht unschicklich wäre, würde ich sogar sagen, das sind Werke, von denen ich meine, dass ich sie unter Umständen auch hätte schaffen können. Das fing an mit Arbeiten von David Hockney, der ja auch ein profunder Kenner und Verehrer der Tradition ist, und setzte sich fort über den ein oder anderen van Gogh und Piet Mondrian bis hin zu Félix Vallotton, der den „Fehler“ gemacht hat, zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht abstrakt zu werden – für den gewöhnlichen Kunsthistoriographen, der sich mit den Siegern der Kunstgeschichte symbiotisch verbunden sieht, so ziemlich das Schlimmste, was man über einen Künstler an der „Wende zur Moderne“ sagen kann. (Piet Mondrian hat es „richtig“ gemacht, obwohl sich sein Erfolg zu Lebzeiten wohl in sehr überschaubaren Grenzen hielt – das am teuersten verkaufte Bild soll den Käufer schlappe 600 Dollar gekostet haben: „Broadway Boogie Woogie“, 1942/43, Öl auf Leinwand, 127 x 127 cm.)
xxxxxIch entdecke also, seit ich (wenigstens geistig) zur Malerei zurückgefunden habe, sehr vieles, das mir sozusagen ähnlich sieht. Auffallend für mich ist, dass anscheinend erst meine Skepsis gegenüber dem Gestus der Moderne(n) (sie wurde geweckt durch Peter Sloterdijk und vertieft durch Bruno Latour, der bereits 1991 ein Buch mit dem Titel „Nous n’avons jamais été modernes“ veröffentlichte) meine Re-Vision der Malerei ermöglicht hat. Und wie das bei Revisionen so ist: viele meiner alten Präferenzen (ich nenne vorläufig keine Namen) musste oder konnte ich endlich aufgeben zugunsten neuer Vorlieben, die mir allerdings vorkommen, als wären sie „immer schon“ meine „eigentlichen“ gewesen. Endlich bin ich doch noch zum Ewiggestrigen geworden. Aber das scheint mir etwas zu sein, das Zukunft haben wird.

MS:
Du hast doch erwähnt, dass es zum Verstehen eines Werks förderlich sei, wenn man (beim Betrachten) das Alter des Herstellers habe, als dieser es schuf. Das ist mir auch aufgefallen, mehr allerdings bei Schriftstellern, in meinem Fall war es das erste Mal bei Hermann Hesse (ich glaube beim „Kurgast“). Bei der Malerei bilde ich mir ein, dass ich hier in recht viel mehr und sogar vordergründig Gegensätzliches mich einfühlen kann und es verstehe. Es ist jedenfalls herrlich, wenn man völlig unabhängig und frei diese Dinge betreiben kann. Die Bildende Kunst ist ein so weites Gebiet, dass man kaum zu einem Ende kommen wird. Wohl werden für mich einige Grundsätze und Ordnungsmethoden überall gelten, sei es bei Mondrian und den Abstrakten, oder aber der anderen Seite. Diese sind aber dazu da, um mir was klarzumachen. Es gibt sodann Dinge die man bevorzugt, und die einem mehr entsprechen. Mit Vallotton etwa, um Dein Beispiel aufzugreifen, tue ich mich schwer, wobei ich sofort die Qualität sehe, aber doch nicht die engere Geistes- oder Seelenverwandtschaft spüre. Vielleicht ist das mit dem Mimetischen der richtige Hinweis.
xxxxxAdorno schrieb einmal: „Hoffnung auf Renaissancen der Pfitzner und Sibelius, der Carossa und Thoma sagen mehr über die, welche sie hegen, als über die Wertbeständigkeit von derlei Seele“. Bei Pfitzner ist die Aussicht, aus politischen Gründen, mehr denn je sehr schlecht, und ich gebe zu, ich halte ihn trotzdem für wertbeständig. Von Thoma sah ich kürzlich in den BNN ein Landschaftsbild abgebildet (in Baden-Baden ausgestellt), das des Malers hohen Rang bewies. Vielleicht war doch der Entwicklungsgedanke der Kunst, den ich bei Adorno noch vermute, nicht der Weisheit letzter Schluss.
xxxxx(Ich habe natürlich einen gewissen Nachholbedarf, was vor allem die neueren Theoretiker betrifft, die habe ich vernachlässigt, Du führst Sloterdijk und Latour (auch Groys) öfter und zu Recht ins Feld. Das werde ich, so gern ich es täte, kaum aufarbeiten können. Gottseidank kaum benötigen werde ich hingegen die vielen modischen Wörter, die erfunden wurden, um die eigene Forschung wichtig zu machen. Von Weibel hörte ich mal den Begriff „zeitbasierte Kunst“. Das mit der „Basis“ ist beliebt. Neulich in Rundfunk sagte jemand, in anderem Zusammenhang, „evidenzbasiert“. „Aktionsradius“ war früher eine ähnlich depperte Erfindung.)

Dezember 2017

LR:
Deine Beispiele für „diskursiven“ Verbal-Müll finde ich noch relativ harmlos. Weibels „zeitbasierte Kunst“ ist der durchsichtige Versuch, „zeitgemäße“ (also letztlich politische, genauer: politisch korrekte) Kunst zu fordern, ohne sie so zu nennen. Womit man mich bis vor kurzem noch zuverlässig auf die Palme bringen konnte, war die Rede von der „künstlerischen Position“, die einem schon seit rund zehn Jahren als Standardphrase in Ankündigungen und Besprechungen von bildkünstlerischen Ereignissen begegnet. In sehr seltenen Fällen mag damit etwas gemeint sein, was diese Bezeichnung verdient. Aber meistens weist der „Begriff“ nur darauf hin, dass schon längst das Getue um die Werke viel wichtiger geworden ist, als die Werke selbst. Es wird versucht, „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ dem Kunstwerk und seinem Schöpfer einen Aura-Ersatz anzutexten. Die nicht mehr wirklich neue Ersatz-Aura flackert als Pose der Position in vorwiegend intellektualistischen, gerne auch moralistischen Kunst-Licht-Tönen. Ausstellungsorte, in deren sprachlichem Umfeld mir das Wort „Position“ vor Augen oder zu Ohren gekommen war, habe ich bis gestern oder vorgestern nur unter Begleitschutz, nämlich bei synchron praktizierten meditativen Einübungen ins Loslassen betreten. Diese Entspannungsübungen und die Gewöhnung an das, woran man sich nicht gewöhnen kann, haben bei mir mittlerweile (hoffentlich) zu einer weitgehenden Immunität gegen derartige sprachliche Reizstoffe in der Artosphäre geführt.
xxxxxBei Rilke, der mir übrigens jenseits von Panther und Sonnenuhr, also als Prosa-Schriftsteller und Briefeschreiber, immer sympathischer wird, habe ich (in einem Brief an Clara Rilke vom 28.6.1907) gerade gelesen: „Man kann nur im ‚Gekonnten‘ bleiben in der Kunst, und dadurch, daß man darin bleibt, nimmt es zu und führt immer wieder über einen hinaus. Die ‚letzten Ahnungen und Einsichten‘ nähern sich nur dem, der in der Arbeit ist und bleibt, mein‘ ich, und der, der sie von ferne bedenkt, bekommt keine Macht über sie.“ In der Arbeit sein und bleiben, das ist in beruflicher Hinsicht das wichtigste. Und sich dann so wenig wie möglich aufregen über den um sich greifenden gedanklich-sprachlichen und sonstigen Irrsinn. Solange man sicher (so sicher wie eben möglich) auf dem Boden der Arbeit steht und bleibt, gibt es dafür auch gar keinen Grund.

MS:
Der Korrektheit halber muss ich zu Weibels Gunsten anführen, dass er Musik, Film und so weiter meinte, wo halt der Ablauf wichtig ist. Deine Einschätzung seiner Einstellung dürfte nichtsdestoweniger zutreffen.
xxxxxVor allem aber sind solche Begriffe überaus allgemein, klingen aber neu, so dass sich jeder auf der Höhe der Zeit wähnt, der sie benutzt. Vom Gerede der Kuratoren und Kunstvermittler klingen oder klingeln mir die Ohren. Die „Positionen“ im Sprachgebrauch dieser Vermittler sind für mich etwas wie deren Kamasutra. Diese Sphäre verlasse auch ich gern, um mich bei der irgendwie bodenständigen Arbeit (mit Material) im Atelier zu erholen. Ich glaube die Künstler aller Zeiten stimmen hier überein, gleichgültig zu welchen Äußerungen sie sonst durchweg fähig sind.

LR:
Ich bin jetzt seit 23 Jahren Holzbildhauermeister. Dass ich zum ersten Mal ein Schnitzeisen in der linken und einen Knüpfel in der rechten Hand hielt, liegt aber schon viel länger zurück. Diese schicksalhafte Begegnung meiner Hände mit dem Werkzeug muss rund 30 Jahre früher, also Anfang der 1960er Jahre in der Werkstatt meines Vaters stattgefunden haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Und doch spiele ich seit ein paar Jahren immer wieder mit dem Gedanken, mich von der Holzbildhauerei zu verabschieden (sie ist und bleibt für mich das Metier des Vaters) und nur noch zu zeichnen und zu malen (womit ich gewissermaßen zu meinen ureigenen „künstlerischen“ Anfängen zurückkehren würde). Und parallel dazu auch weiterhin über dies und das zu schreiben.
xxxxxWas mich bisher von diesem späten Abschiednehmen abgehalten hat, war zunächst der Umstand, dass es hauptsächlich die Holzbildhauerei war und ist, mit der ich mein Geld verdient habe und verdiene – ein guter Grund, ihr die Treue zu halten, selbst wenn es mir gelänge, andere Einnahmequellen zum Fließen zu bringen. Wenn daneben zusätzliche Motivation nötig wäre, dann hätte ich diese in meiner Verbundenheit mit dem, was Du das Material nennst, wozu ich eher zuerst als zuletzt die hundert verschiedenen Schnitzeisen, die Hobelbank und den mittlerweile ziemlich ramponierten Knüpfel (das ist der runde „Hammer“ des Holzbildhauers) zähle. Mit Sentimentalität hat das viel weniger zu tun als mit Sensualität. Ich vermute, jedem Handwerker, der den Namen verdient, geht es so: Es entsteht eine gegenständliche Vertrautheit mit dem Stoff auf der körperlich-sinnlichen Ebene. Einfacher und daher besser gesagt: Es fühlt sich für mich immer wieder gut an, ein Schnitzeisen in die Hand zu nehmen und es mit gezielten Schlägen routiniert in ein Stück Holz zu treiben. Wahrscheinlich geht es Dir mit dem Pinsel, der Farbtube und der Leinwand ganz ähnlich, denn auch Du bist ja, indem Du Künstler bist, zugleich Hand-Werker.

MS:
Weder auf die Hände noch das Werken möchte ich verzichten. Von Giorgio de Chirico gibt es einen famosen Text „Morgengebet eines echten Malers“. Ich hab ihn leider nicht zur Wiedergabe parat, das Morgengebet ist ein Lob des Handwerks und gegen die Kritiker gerichtet. De Chirico machte bekanntlich einst eine gewisse Kehrtwendung („pictor classicus sum“), die ihm viele verübelten, und die ihm aber viel Freiheit verschaffte.
xxxxxDass Du die Werkzeuge sogar vor dem Material nennst, kann ich gut nachvollziehen. Sie sind die Verbindung. Das Ursprünglichste wäre wohl das Formen des Lehms. Ich selbst könnte unter Umständen mit nur Papier und Bleistift vollauf zurechtkommen, da ich Farbigkeit letztlich als sekundär erachte. Da sind wir wieder beim Beginn unseres Gesprächs und immer wieder sind diese Fragen aufgetaucht, etwa der Perfektionierung. Wieso wäre eine bildnerische Ausdrucksweise in Holz Dir nicht genug (immerhin hast Du viele Beispiele geliefert), was gibt ein Malprogramm des Computers mehr her?

LR:
Es geht mir nicht darum, mich auszudrücken. Weder im Medium Holz noch in einem anderen Medium. Noch nicht einmal im „Medium“ der Sprache, wobei die Sprache für mich kein Medium ist. Zeitungen, Webseiten, Bücher oder E-Mails fungieren als Medien – die Sprache selbst ist etwas Primäres, Apriorisches und nicht etwas Mediales oder Vermittelndes. Das Johannes-Evangelium stellt das von Anfang an klar: Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Eine Bibelstelle, die ich seit Jahren immer wieder zitiere. Sie ist nicht dunkel, wie manche meinen, sondern in ihrer Luzidität kaum zu überstrahlen. Aber das nur nebenbei. Nein, ich will mich selbst und andere beeindrucken, zum Staunen bringen – und nicht mich ausdrücken. Für mich hört sich das ein wenig unappetitlich an und ich kann nicht nachvollziehen, was damit gemeint sein könnte.
xxxxxNach wie vor beeindruckt mich die in Holz gefasste Schönheit, aber andere Mütter haben auch schöne Töchter, wie mein Vater zu sagen pflegte. Und die computergeborene Grafik oder Malerei hat als Bild-Schöne außerdem den Vorzug der jugendlichen Frische. Ich finde es reizvoll, wenn auch gelegentlich anstrengend, mit beiden etwas zu haben: Mit der Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende alten Holzschnitzerei und der noch nicht einmal richtig erwachsen gewordenen Tablet-Zeichnung. Wenn man sich die „iPad-drawings“ von David Hockney ansieht, zeigt sich einem sofort, wie unverbraucht dieses Medium noch ist. Natürlich weiß ich, dass der gerade erst achtzig gewordene Hockney der Juventizitäts-Faktor ist, dem die Bilder ihre Unverbrauchtheit hauptsächlich verdanken. Aber ein wenig wird wohl auch das noch relativ unschuldige Medium selbst daran schuld sein. Wenn das Medium die Massage, Botschaft oder Nachricht ist, wie Marshall McLuhan gesagt hat, dann lautet die Gute Nachricht der Tablet-Bilder: Die Bildermacherei ist noch lange nicht am Ende, sie erneuert und verjüngt sich gemeinsam mit den Innovationen an ihrer technisch-materiellen Basis. Und mir macht es Spaß und es belebt mich, daran teilzuhaben.
xxxxxWas ich auch noch klarstellen möchte: Ich zeichne oder male nicht mit einem Malprogramm, sondern mit einer Art Griffel (manchmal auch mit dem rechten Mittelfinger), den ich über eine Glasscheibe führe. Welche Art von Spuren in welcher Farbe ich beim Zeichnen-Malen hinterlassen will, kann ich einstellen. Das entspricht ungefähr dem Wechseln der Stifte, Pinsel, Farbstoffe und so weiter. Darauf, auf Griffel und Glasscheibe samt Tablet oder iPad, wird die ganze stofflich-sinnliche Wirklichkeit des Malens und Zeichnens reduziert. Und natürlich riecht es, wenn ich male, allenfalls nach Kaffee.
xxxxxDas fertige Bild könnte man mit der Platte einer Radierung oder mit einem Litho-Stein vergleichen, nur dass es seinen späteren Realisierungen auf Papier oder einem anderen Träger-Material schon zum Verwechseln ähnlich sieht und als Bild auf dem Computer-Bildschirm von jeder Spur der Vorläufigkeit befreit, also bereits als es selbst in Erscheinung tritt.

MS:
Die jüngsten Werke sind immer die letzten, es kommt mir vor, als ob in den sogenannten Spätwerken die Künstler am unverbrauchtesten sind, entgegengesetzt zu ihrem Alter gibt es da oft die jugendlichsten und neuesten Sachen. Das ist ein großer Trost, dass ausgerechnet das Alter die schönsten und strahlendsten Freiheiten hervorbringt.
xxxxxIm Fall von Hockney könnte auch das spielerische Element der Technik ihm wichtig sein. Ich habe auf meinem Laptop was, das nennt sich „MyPaint“, damit kann ich, in meinem Fall mit der Maus, mit allen möglichen Mitteln alles Mögliche zeichnen und malen, so dass mir schwindelerregend schnell alles viel zu viel ist; dann beschränke ich mich und nehme, sage ich mal, nur Schwarz-Weiß und eine Linie, aber so lande ich doch bald bei Papier und Bleistift. Ich mache die Büchse der Pandora quasi wieder zu, obwohl sie, wie ich weiß, inwendig in mir ist.
xxxxxEine Kunst, die nur oder vorzüglich sich am Computer-Bildschirm oder ähnlichem abspielt, erinnert mich an das Medium Film und dessen Immaterialität. Im Falle der Malerei und der Zeichnung suche ich selbst unverbesserlich das Material, das Wort muss Fleisch werden, könnte ich sagen, ich ziehe der reinen Geist-Kirche die inkarnierte vor. Es wäre also für mich die Frage, ob nicht im Fall der Computermalerei und so weiter aufs „Ausdrucken“ überhaupt verzichtet werden sollte.

LR:
Einer der Unterschiede zwischen Film und Computer-Bild ist, dass man Filme nicht ausdrucken kann, jedenfalls nicht als Movies, sondern nur als Film-Stills, also als Standbilder. Auch das versagt man sich nicht und hält die Ergebnisse inzwischen sogar für Kunst.
xxxxxMüssen wir uns auch Don Quijote als einen glücklichen Menschen vorstellen? Nicht nur, dass man die Computer-Bilder nicht daran hindern kann, ihre Geburtsstätte zu verlassen und sich unter die originären Hardware-Bilder, denen sie mitunter zum Verwechseln ähnlich sehen, zu mischen. Nein, in der Gegenrichtung ist die Einwanderung der mit richtigen Farben richtig gemalten, sozusagen leibhaftigen Bilder in den Computer längst zu einer permanenten Massenbewegung geworden. Mittlerweile gilt wohl, dass die Mehrzahl der Bilder, welche ich (wie unleibhaftig auch immer) jemals gesehen habe, mir auf dem Bildschirm des Laptops vor Augen gekommen ist. In Deiner Diktion müsste man also von einem fragwürdigen Inkarnationsprozess einerseits und einem reziproken, quantitativ wesentlich bedeutsameren Exkarnations- oder Vergeistigungsprozess andererseits sprechen.
xxxxxIn einer wissenschaftlichen Bildtheorie wäre begrifflich (mindestens) zu unterscheiden zwischen dem Ölgemälde in Öl, seiner Abbildung in einem Bildband und seiner Abbildung auf einem Bildschirm – nicht zu vergessen die für die Transformation wichtigen Übersetzungs- und Konservierungseinheiten des Film-Negativs und der Bild-Datei. In unserer alltäglichen Sprach-Schlamperei tendieren wir dazu, die ontologischen Unterschiede bei unserer Wortwahl nicht zu berücksichtigen, etwa indem wir undifferenziert von Leonardos Mona Lisa sprechen, die wir gesehen haben. Ohne es zu wollen, outen wir uns als Platoniker. Man könnte aber auch sagen, Platon hat mit seinem Höhlengleichnis die schon von ihm beobachtete Neigung zur sprachlichen Indifferenz philosophisch gerechtfertigt.
xxxxxApropos Rechtfertigung. Ich glaube, es ist nicht nötig, dass ich eine Abhandlung „In Defense of Printing Computer Drawings“ schreibe, ehe ich mit der Praxis des Druckenlassens meiner Tablet-Zeichnungen fortfahre. Der Sphärenwechsel wird nicht nur ganz selbstverständlich und unspektakulär vollzogen, sondern von den Unternehmen, die ihn als Transformations-Dienstleistung anbieten, auch noch durch Sonderpreisaktionen nach Kräften gefördert. Der Weg zur Hölle ist nicht nur mit guten Vorsätzen (wir nähern uns dem Jahresende), sondern auch mit Sonderangeboten gepflastert, wirst Du jetzt vielleicht sagen.

Januar 2018

MS:
Ich erinnere mich an einen Besuch bei meinem alten Professor in dessen Dienstatelier, etwa vier oder fünf Jahre nach Beendigung des Studiums. Da ich zufällig zwei Farbfotos von neueren Werken dabei hatte, zeigte ich sie ihm; und sofort sagte er: „Das haben wir doch nicht nötig!“ Unter uns also, dies seine Botschaft, sollte das Original betrachtet werden, denn wir beide hatten dieses gegenseitige Privileg.
xxxxxDas Ideal in Sachen Ausdruck scheint mir noch nicht gefunden, obwohl Dein Werk in der aktuellen Ausstellung im Badischen Kunstverein in der Hinsicht tadellos ist. Auf dem Schirm ist eine Computer- oder iPad-Zeichnung oder Ähnliches für mich fast am schönsten. Doch wer könnte und wollte überall Bildschirme aufhängen? Insofern ist ein Transfer natürlich nötig und gerechtfertigt, und wenn man das Material durch Erfahrung kennt, auch berechtigtes Ziel. Vor allem will ich nicht ständig auf einen Monitor schauen.
xxxxxEs war doch – darauf bringt mich Deine schöne In- und Exkarnationsüberlegung – in vergangenen Zeiten mal die Rede vom Bild des Bildes des Bildes und so weiter (Baudrillard?). Es soll malende Kollegen geben, die Fotos als Vorlagen verwenden, so kommt es zu einer kuriosen Kette. Da malt einer ein Foto ab (etwas Flaches also, er malt vielleicht sogar pastos, womit er das Flache ins Plastische umwandelt oder zumindest ins Gröberstoffliche), aber sein eigentliches, tieferes Begehr ist das spätere Ablichten seines Werks und dessen Abdruck in einem Kunstkatalog, oder am besten in einer Zeitung, vielleicht sogar der, der er die Vorlage entnommen hat, vielleicht Stern und Spiegel. Welch ein schöner Teufelskreis!

LR:
Solange man Techniker oder Handwerker bleibt, womit ich sagen will: solange einem das Bild, an dem man, mit welchen Mitteln auch immer, gerade arbeitet, wichtiger ist als jedwedes Geschwätz darüber – solange können einen solche oder andere Teufelskreise nicht nachhaltig auf die schiefe Bahn bringen. Der Teufel ist ja auch nur ein gefallener Engel. Manchmal braucht man ein Bild, um ein Bild machen zu können, ein andermal hilft einem ein Spruch auf die Sprünge oder man erinnert sich an etwas oder man zieht wie die Höhlenmaler mit der Staffelei über Land.
xxxxxDie Kunst spielt sich heute bei denen, die sich für die legitimen Erben der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts halten, nicht mehr im Konkreten (heiße es nun konkret-konstruktiv, abstrakt, figürlich oder sonstwie) ab, sondern sie fristet ihr ephemeres Rest-Dasein in den „Diskursen“ ersten, zweiten und dritten Grades. Aber anstatt dass Weibel, Casser und Co. die Ausstellungsräume, mit denen sie im Grunde nichts anzufangen wissen, denjenigen überlassen, die tatsächlich etwas zu zeigen haben, besetzen sie sie mit Referenzobjekten, die angeblich auf das gemeinte Eigentliche verweisen und zum Nachdenken, Pardon: Reflektieren anregen oder der Dokumentation dienen – in Wahrheit aber nur Platzhalter ihres Machtanspruchs sind. Und natürlich symbolisieren diese Pseudo-Bilder und Denk-Objekte den Anspruch der Institutionsvorsteher“*innen“ auf Deutungshoheit im Theorie-Raum der Kunst (wie auch im Raum der politischen Moral) und auf Subventionsgelder im praktisch-realen Handlungsraum.
xxxxxDamit habe ich das mir von mir zugestandene Quantum an Polemik im neuen Jahr schon beinahe aufgebraucht. Positiv gesagt: Wir Bildermacher sollten zusammenhalten. Ich komme immer wieder auf David Hockney zurück. Er wechselt, wie mir scheint, problemlos von der analogen in die digitale Welt und wieder zurück. Für ihn ist alles „drawing pictures“ – ich hoffe, er kann als Wanderer zwischen den Welten noch ein paar Jahre lang so weitermachen. Ich habe mir jedenfalls für 2018 nicht nur weniger Polemik, sondern auch mehr Wild-Wechsel oder wilde Welten-Wechsel á la Hockney vorgenommen. Was sieht Dein Neujahrs-Wunschzettel denn vor?

MS:
Mögen mich genannte Künstler*innen-Chef*innen*s und ihre Diskurse nicht vom rechten Weg abbringen und mir nicht zu viel Beschäftigung mit ihren Worten und Lehrsätzen abringen. Möge mich ihre Beredsamkeit nicht einschüchtern; hingegen mögen meine Instinkte und meine Erziehung mich vor Irrwegen bewahren und meine Vorurteile mich schützen!
xxxxxIch bin recht zuversichtlich, dass dieser pathetische Teil meiner Wünsche wahr wird. Die Beschäftigung mit Ausführung und Abläufen bei künstlerischer Arbeit hingegen ist mir stets hilfreich gewesen. Es gibt wirklich keine Techniken, die ich ablehnte oder ausschlösse, wenn ich auch selbst wenige nutze. Wie angenehm etwa ist es, dem mir sehr sympathischen Fotorealisten Franz Gertsch bei seinem Malen unter dem eingeschalteten Projektor zuzusehen! Was meine eigene Technik betrifft, so erhoffe ich mir, wieder einmal, eine Vereinfachung und weniger Langwierigkeit. Vielleicht sollte ich hierzu Altes liegen lassen. Beweglichkeit, wie Hockney sie zeigt, kann auch mir entsprechen.

LR:
Mehr Beweglichkeit! Das könnte auch eine Maxime des Katalanen Salvador Dali gewesen sein. Wie ich weiß, ist es Dir nicht entgangen, dass ich gerade mit immer noch wachsender Begeisterung Dalis zuerst 1942 in New York veröffentlichte Autobiographie „Das geheime Leben des Salvador Dali“ lese und Sätze und Passagen daraus sukzessive in meinem Daily-Work-Journal veröffentliche, was unter urheberrechtlichem Aspekt möglicherweise fragwürdig ist.
xxxxxWas und wie Dali gemalt hat, scheint zu einem gewissen Teil eine Folge des jeweiligen Zustands seiner Umgebung, also der Vorgänge in der Pariser Intellektuellen- und Kunstszene einschließlich der Käuferschaft, gewesen zu sein; wobei Dali offenbar versucht hat, die Publikums-Reaktionen, auf die er dann seinerseits wieder künstlerisch reagierte, selbst mit hervorzurufen oder anzustoßen. Von seinen Gedanken (und wohl auch Werken) wünscht er sich, sie seien: „relativ, wechselnd mit der kleinsten Standortveränderung im Raum des Geistes, ständig ihr eigenes Gegenteil werdend, sich verstellend, ambivalent, heuchlerisch, verkleidet, vage und konkret, ohne Traum, ohne ‚Wundernebel‘, meßbar, feststellbar, physisch, objektiv, materiell und hart wie Granit.“
xxxxxAuf der einen Seite wusste Dali sehr genau, was er wollte und was er nicht wollte, nämlich: die moderne, abstrakte Malerei, die, wie er schreibt, „manischen Rechteckchen von Herrn Mondrian“ zum Beispiel. Andererseits hatte er ein feines Gespür für das, was man wollte und nicht wollte – beziehungsweise nicht mehr wollte.
xxxxxEine sozusagen Salvadorianische Mischung aus egomanischem Eigensinn (der Wille zur Verwirklichung der eigenen, womöglich abnormen Individualität) einerseits und opportunistischem Relativismus andererseits – mir kommt das als Erfolgsstrategie sehr plausibel und legitim vor. Die gesamte Evolution und jegliches Marktgeschehen haben etwas mit kreatürlicher und kreativer Anpassung an vorgegebene und sich verändernde Aktionsbedingungen zu tun. Allein der Künstler soll nach dem Willen einer immer noch weit verbreiteten, ebenso weltfremden wie lebensfeindlichen Schaffens-Moral nur seinem unwandelbaren inneren Leitstern folgen, dem Gesetz unter dem er angetreten ist, wie es bei Thomas Mann heißt – der zugleich regelmäßig und mit merklicher Genugtuung im Tagebuch notiert, aus welcher Quelle ihm Einnahmen in welcher Höhe zugeflossen sind.

MS:
Wenn ich bei Beweglichkeit und Anpassung an die Preisbildung denke, zeigt sich mir ein schwieriges Gelände. Das will ich heute lieber nicht tun, obwohl grad hier ein Ansatz sein könnte. Der Dalische Granit, wahrscheinlich sind es die Felsen von Kap Creus, kann ihm auch zum Camembert werden. Ich finde ihn brillant im Denken und Reden, wie Deine Auszüge hier wieder zeigen. Er starrte, und das war die Kehrseite seines öffentlichen Auftretens, auf seine Leinwand, in der Hoffnung, von seinem Genie heimgesucht zu werden – „paranoia-critique“. Diese Technik wende ich auch an. In Mondrians Werken hat das reine, das statische Sein einen gar nicht verbohrten, sondern lichten Höhepunkt gefunden. In New York malte er später recht beschwingt (seine Boogie-Woogie-Bilder).
xxxxxEs gibt etliche, grade bei den Surrealisten, deren Werk vielseitig ist, ohne charakterlos zu sein. Doch über das von Yves Tanguy schrieb mal einer: „Wenn man Tanguy auch nicht ungestraft nachahmen kann, so kann man doch aus seiner einsamen Ausdauer lernen. Besonders die jungen Maler, die vom Lärm in der aktuellen Malerei herausgefordert werden, sollten dieser Beharrlichkeit folgen.“ (René Passeron). So was hätte auch Michel Seuphor (der berühmte belgische Kunstkritiker und Autor) über Mondrian schreiben können. Wo sind denn heute diese Auseinandersetzungen? Das 20. Jahrhundert war zu beneiden. Seither sehe ich hier nicht viel passieren.

Februar 2018

LR:
Womöglich passiert hier deswegen nicht mehr viel, wie Du feststellst, weil mehr oder weniger alles gesagt ist. Jetzt muss man entweder irgendwie weiterkünstlern oder es sein lassen – eine Option, die nach Theodor W. Adorno (den wir hier bereits mehrfach erwähnt haben) jeder ernsthafte Künstler schon vor einem halben Jahrhundert als Möglichkeit in Betracht gezogen hat. Und wenn man nicht aufhört, dann bleibt einem, so Adorno 1966 im Gespräch mit Arnold Gehlen, nichts anderes übrig, als dem ungläubigen, besser gesagt: kunstgläubigen Betrachter die Unmöglichkeit von Kunst in jedem Werk aufs neue vor Augen zu führen; nur der hat also eine Chance Kunst zu schaffen, der keine schaffen will, genauer gesagt: ein so hochrangiger Künstler ist, dass es ihm nicht gelingt, sie zu schaffen, obwohl er sie schaffen will. Aber Adorno fordert ja auch, dem Glück um des Glückes willen zu entsagen – das ist nicht Schwachsinn, sondern Dialektik. Damit Du mich nicht falsch verstehst: Ich finde Adornos Schwach-, besser gesagt: Widersinn großartig. Das ist sophistischer, bodenloser Widersinn ohne Anfang und Ende auf höchstem Niveau, welchen ich dem scheinbar widerspruchsfreien, moralständigen universellen Reuesinn, der momentan als einzig legitimer Horizont des Denkens- und Argumentierens gilt (hinter dem unmittelbar das Reich des Bösen beginnt), allemal vorziehe. Man versteht, dass Thomas Mann in seinem Doktor Faustus dem Teufel die Züge Adornos gegeben hat.
xxxxxTrotzdem fühle ich mich durch Adornos verteufelte Forderung nach Glücksverzicht um des Glückes willen ebenso überfordert wie von derjenigen nach Schönheitsverzicht um der Schönheit willen. „Es gibt ein Leben vor dem Tod“, hat Wolf Biermann behauptet, wobei ich nicht glaube, dass Adorno diese nicht-triviale triviale Feststellung uneingeschränkt hätte gelten lassen. Im Sinne von Biermann würde ich dennoch ergänzen: Es gibt auch eine mögliche, wenn Du so willst: alltagstaugliche Bild- und Ton-Kunst diesseits von Adornos transzendent-unmöglicher Sonn- und Feiertags-Kunst, die nur in solchen Werken präfiguriert wird, welche Kunst sind, indem sie keine Kunst sind. Das ist mir zu anstrengend.
xxxxxWenn ich Dich also sagen höre beziehungsweise geschrieben haben sehe, dass das 20. Jahrhundert zu beneiden sei, dann stimme ich dem nur bedingt zu. Denn unter den kunstideologisch entspannteren Bedingungen wie sie heute herrschen kann man eben auch viel entspannter arbeiten, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. So manches große Werk wäre vielleicht nicht entstanden, wenn sein Schöpfer oder seine Schöpferin damit nicht auch eine ideelle Position eingenommen und verteidigt hätte. Eine „Position“ ist heute das, was jeder schon allein dadurch hat, dass er beispielsweise ein Bild malt, und er „verteidigt“ sie, indem er das Bild ausstellt. So billig wie heute waren die Positionen vor hundert und sogar noch vor fünfzig Jahren glücklicherweise nicht zu haben. Du siehst, ich verwickle mich in Widersprüche und der Teufel Adorno lacht sich ins Fäustchen.
xxxxxIch gebe also zu, ich weiß nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort, ob ich das künstlerische Laissez-faire von heute gut oder schlecht finden soll. Es gibt auf der Ebene der allgemeinen künstlerischen Moral keine „Diskurse“ mehr, weder über das, was man malen und machen darf, noch über Rangunterschiede, letzteres beklagte Salvador Dali übrigens schon in den 20er Jahren des vergangenen, von Dir zu einem beneidenswerten erklärten Jahrhunderts. Ein anderes Wort für diesen Zustand ist Freiheit. Früher musste man sich die als Künstler nehmen, heute ist sie als Bedingung der Möglichkeit des künstlerischen Tuns und Lassens immer schon gegeben. Und das passt uns dann auch wieder nicht.

MS:
Sie ist nicht nur gegeben, sondern sogar vorgeschrieben, halt auch deswegen, weil beispielsweise die Autoritäten etwa der Akademien und so weiter nicht fähig sind, eine verbindliche Lehre herzustellen; deswegen auch deren Ersatz durch die „Positionen“. Es wird ja nichts mehr gelehrt, sondern Positionen werden präsentiert. In der Praxis werden zwar gewisse Dinge beibehalten und weitergegeben, weil es eben nicht nur Konventionen sind oder der Stil einer Elite, sondern ursprüngliche Werte. Es ist vielleicht ein wenig wie mit dem Naturrecht, scheint mir; es ist quasi im Menschen verankert, auch wenn viele tönen, dass alles nur freie Verabredungen und Übereinkünfte seien.
xxxxxAdorno hatte doch was gegen „mittlere“ Kunst, mindestens gegen „mittlere Komponisten“, wenn ich es recht im Gedächtnis habe, und legte die Messlatte wohl auch bei sich sehr hoch an. So hat er, glaube ich, nach 1945 nichts mehr komponiert. Irgendwie ist bei ihm dieser Entwicklungsgedanke stets da (ich bin kein Freund davon), der Gedanke, was alles nicht mehr möglich ist, ein „Kanon des Verbotenen“, wie er es irgendwo nennt. Die ersten anderthalb Seiten seiner Ästhetischen Theorie beschreiben ja gleich die ganze Situation der zeitgenössischen oder modernen Kunst hervorragend.
xxxxxDie Postmoderne im Gegenzug hat danach und seither einer Bedenkenlosigkeit Platz geschaffen, die mir auch nicht nur gefällt.
xxxxxEs geht mir so wie Dir, mit dem Laissez-faire. Immerhin kann einer dadurch gegen die vorgeschriebene Freiheit wieder ganz unmögliche, nämlich unfreie Dinge machen. Da bin ich sowieso dabei, wie Du weißt („gotische Bilder“ etc.).
xxxxxWenn ich mich in der Malerei umsehe, finde ich im jetzigen neuen Jahrhundert nicht in dem Maße Neues, wie es noch vor der Jahrtausendwende immer wieder zu registrieren war, als sich die Stile jagten und die Einfälle, und als man einfach auch mal was auslassen konnte. Stattdessen nur Personen und Namen. Vielleicht wäre statt der verzweifelten ersatzweisen Personalisierung eine No-name-Kunst entlastender.
xxxxxIch werde mir heute abend mal die Biermann-Platte „Warte nicht auf beßre Zeiten“ auflegen.

LR:
Wenn man Deiner Empfehlung kollektiv folgen und sich zur No-name-Kunst entschließen beziehungsweise zu dieser zurückkehren würde, wären wir wieder in einer Übergangsphase ähnlich derjenigen, in der vor gut einem halben Jahrtausend die ersten Künstler namentlich in Erscheinung traten – nur dass die Entwicklung diesmal in die andere Richtung verlaufen würde. Aber was heißt „würde“, ich wette, darauf wird es hinauslaufen. Du musst dich nur umsehen: allüberall wird das Individuum abgeschafft. Wer wissen will, was er denkt, braucht nur regelmäßig ARD oder ZDF einzuschalten. Piet Mondrian hat das Ende des Individualismus schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen sehen, ja er wollte es geradezu herbeipredigen. Wohingegen Salvador Dali etwa zur gleichen Zeit noch vehement seine Individualität postuliert und kultiviert hat. Indem Dali allerdings seine Aufgabe darin sah, Salvador Dali zu werden, gab er, wie mir scheint, zu erkennen, dass die individualistische Authentizität, die er anstrebte, keine sozusagen natürliche, sondern eine künstlerisch künstliche war. Es ging ihm mehr um die Firma Dali als um deren Chef in seiner Eigenschaft, ein menschliches Wesen zu sein. Ich habe dagegen übrigens keine Einwände, Dali hat intuitiv verstanden, worauf es in naher Zukunft ankommen würde. Während Dali auf der Höhe der Zeit war, war Mondrian mit seinem theoretischen Anti-Individualismus seiner Zeit in der Theorie weit voraus.
xxxxxDie heute zu beobachtenden, mehr oder weniger angestrengt wirkenden Bemühungen der großen Masse der Kreativen, sich zur Künstler-Persönlichkeit zu stilisieren, haben etwas von Don Quijotes wahnhaftem Bestreben, in Dulcinea del Toboso eine edle Dame und in sich selbst deren Ritter und Beschützer zu erkennen. Die Kunst ist schon lange keine edle Dame mehr und wir Künstler waren noch nie die fahrenden Ritter, die der Dame Kunst in keuscher und reiner Verehrung dienten und die Treue hielten. Trotzdem finden es wohl die meisten irgendwie anstößig, wenn man über die Kunst nicht in den höchsten, gewissermaßen „dämlichsten“ Tönen spricht oder sich mit ihr als „Künstler“ nur hin und wieder zum Tête-à-Tête trifft, um ansonsten auch andernorts schöpferisch oder sonstwie tätig zu sein. Ich sage damit nicht, dass es keine starken Künstler-Persönlichkeiten mehr gibt, uns beiden fallen auf Anhieb mindestens ein Dutzend Namen (meist älterer Herren) ein, aber als Typus ist das solitär-autistische Künstler-Individuum mit lupenreiner Künstler-Biographie schon lange ein Auslauf-Modell. Ich selbst frage mich notorisch, ob und wie ich Künstler sein kann, ohne Künstler zu sein, das heißt: ohne mich mit diesen nach wie vor virulenten Künstler-Klischee-Vorstellungen bei mir und bei anderen herumplagen zu müssen.
xxxxxThomas Mann hat sich als Schlussstein und ironischen Vollender der Tradition gesehen, Mondrian sah sich als unverzichtbaren Wegbereiter der Auflösung der Kunst ins Kollektiv-Allgemeine, Dali wollte als einer der ersten zur eigenen Marke werden – das war alles vor hundert Jahren, das sind heute keine Möglichkeiten mehr. Dies ist, wenn man so will, die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Wir könnten (Konjunktiv) uns jetzt, von Ideologien und Muster-Biographie-Zwängen befreit, dem zuwenden, was uns künstlerisch interessiert, beglückt, erfreut, befriedigt und so weiter. Peter Sloterdijk, der, soviel ich weiß, nie als Großer Philosoph gelten wollte, nahm sich kürzlich die Freiheit, einen zweifelhaften „Bericht“ über sein privates Liebesleben und das seiner Freunde und Bekannten zu schreiben. Abgesehen davon, dass ich das Buch in erster Linie langweilig finde, kommt mir sein Schritt vom Wege wegweisend vor. Wir sollten alle mehr querfeldein gehen, auch wenn ich zugeben muss, dass ich Wege mit festgetretener oder geteerter Oberfläche ansonsten bevorzuge.

MS:
Mondrian wünschte vielleicht, die Kunst überflüssig zu machen, Kunst ist jedoch nicht wirklich überführbar in die Realität.
xxxxxDer Don-Quijotterie möchte ich aber doch eine Lanze brechen: „Hail, Knight of the Woeful Countenance!“ Die Fähigkeit, hinter der Realität Universelles zu sehen, Ideale durch die Wirklichkeit hindurch, ist was wert. „Facts are the enemy of the truth“, sagt Cervantes-Don Quixote im Musical Man of La Mancha. Das ist mir schon sympathisch.
xxxxxKomme ich selbst Künstlerklischees zu nahe? Erfreut, vereinzelt auch mal enttäuscht, stelle ich fest, dass mich niemand ohne weiteres für einen Künstler hält. Vielleicht gab es Jahre, da ich den Klischees mehr entsprach.
xxxxxSloterdijk ist also quasi im Sumpf gegangen. Wo könnten meine Querwege verlaufen oder abzweigen? Das Schreiben über „Kunst“, wie hier im Dialog, ist ein Seitenweg, sag ich mal.
xxxxxDer künstlerische Querweg ist noch nicht recht in Sicht. Wenn ich eigene alte Sachen durchsehe, zeigt sich mir manchmal etwas, was ungewollt oder unbemerkt anders war und unbeschwerter. Es kommt mir wenigstens so vor.
xxxxxDa soeben die art Karlsruhe zu Ende ging, muss ich sagen, mir braust noch leicht der Kopf von den gefüllten Galerien dort, eigentlich sind es eher Boutiquen. (Da taucht bei mir die Idee des Kunstfastens auf.) Doch hat, wie jedes Jahr, schon ein einziges Werk es vermocht, mich mit der Veranstaltung zu versöhnen.

Seitenanfang

Der ganze Dialog hier als PDF-Datei zum Herunterladen.

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner