Die Sau Phaia und ihr genealogisches Umfeld

Von Theseus‘ Geburtsstadt Troizen nach Athen sind es auf dem Landweg 160 Kilometer. Für einen, der gut zu Fuß war, sollte das in einer Woche zu schaffen gewesen sein. Hätte Theseus übers Wasser gehen könne, wären es von A (also T.) nach B (also A.) kaum mehr als sechs Stunden gewesen. Wie an anderer Stelle in Ansätzen berichtet, hat der junge Held dabei fünf oder sechs mehr oder weniger menschliche Wegelagerer und ein Tier in Form einer Sau zur Strecke gebracht – „clearing the highway of assorted bandits and miscreants“ nennt das ein Internet-Lexikon zur griechischen Mythologie.

Das zu dieser gemischten oder auch schlecht sortierten („assorted“) Gesellschaft gehörige Schwein hörte auf den gar nicht so unschönen Namen Phaia, wobei, wer das oben zitierte Lexikon konsultiert, die Auskunft erhält, nicht das Schwein selbst, sondern dessen in die Jahre gekommene Halterin habe so geheißen und beide, die ältere Dame und ihr wahrscheinlich einziges Haustier, seien von Theseus mir nichts, dir nichts erschlagen worden. Träfe dies zu, wären Zweifel an der moralischen Integrität des später vergleichsweise populären Königs von Athen durchaus angebracht. Musste der Tod der Greisin als Kollateralschaden in Kauf genommen werden? Was konnte diese dafür, dass ihr wählerisches Schwein nur Menschen fraß? Oder hatte die Alte selbst es ihm beigebracht? Und, wenn ja, warum?

Wirft man allerdings einen Blick auf den Stammbaum des getöteten Tieres, wird die Berechtigung der ethisch begründeten Zweifel an Theseus’ Moral wiederum in Zweifel gezogen durch das Bild des Schreckens, das sich dem genealogisch informierten Auge darbietet.

Mütterlicherseits stammte Phaia, die Sau, möglicherweise von Chrysaor ab, der zusammen mit Pegasos dem Rumpf der durch Perseus enthaupteten Medusa entwichen war. Über Phaias Großvater Chrysaor selbst kann nichts Nachteiliges berichtet werden. Der Umstand, dass er, wie sein Name schon sagt, mit einem goldenen Schwert in der Hand zur Welt kam, spricht per se noch nicht gegen ihn. Anders sieht die Sache bei Chrysaors Tochter Echidna aus. Um wenigstens eine Ahnung davon zu vermitteln, mit wem man es zu tun bekam, wenn man es mit ihr zu tun bekommen hat, wird hier der griechische Dichter Hesiod zitiert, der in seiner Theogonie schreibt, Echidna sei „ein unsagbares Scheusal, halb schönäugiges Mädchen, halb grausige Schlange, riesig, buntgefleckt und gefräßig“ gewesen. Da findet man es dann auch nicht mehr befremdlich, dass Phaias Mutter Echidna in Phaias Fall keine Tochter geboren, sondern ein Ferkel geworfen hat.

Vollends suspekt wird einem die von Theseus erschlagene Sau, wenn man sich nach ihrem Vater Typhon erkundigt. Dass der zugleich als Vater aller Taifune bezeichnet werden kann, wird zur Nebensächlichkeit, sobald man erfährt, dass die erdige Urmutter Gaia sich mit dem höllischen Tartaros eingelassen hat, nur um ein Monster zu kreieren, das stellvertretend für sie Rache nehmen sollte an Zeus und den anderen Göttern wegen deren Unterwerfung der Titanen und Giganten. Warum letztere der Mutter aller Mütter lieber waren als ihre Enkel, die es immerhin zu Göttern gebracht hatten, wussten nicht einmal die Götter.

Allein Typhon tat, was von Anfang an seine Bestimmung gewesen war und verschreckte mit seinen zahllosen Gliedmaßen und Köpfen und seinem infernalischen Gebrüll die Götter so sehr, dass sie sich erst nach Ägypten und, dort angekommen, in die Gestalt von Tieren flüchteten.

Gott (welchem auch immer) sei Dank gelang es Zeus dann doch noch, Typhon zu besiegen und einigermaßen unschädlich zu machen, indem er ihn unter der Insel Sizilien begrub, wo Phaias Vater seither mit den Aktivitäten des Ätna in Verbindung gebracht wird. Bevor es dazu kam, muss Typhon noch Zeit gefunden haben, mit dem gefräßigen Schlangen-Weib Echidna ein nicht minder gefräßiges, aber insgesamt relativ normale Schwein zu zeugen.

Als die Sau endlich zur Strecke gebracht war, soll es in Krommyon, wo Phaia bis kurz vor Theseus‘ Eintreffen ihr Unwesen getrieben hatte, nach Schweinebraten gerochen haben, obwohl Tiere, die sich hauptsächlich oder auch nur bei sich bietender Gelegenheit von Menschen ernähren, im Sinne einer onto- und ökologisch korrekten Nahrungskette für den menschlichen Verzehr eher nicht infrage kommen. Aber wenn es in der mythologischen Antike schon nichts wirklich Ungewöhnliches war, dass man mit der eigenen Tochter oder Mutter schlief, warum sollte man dann nicht auch das Filetstück eines Schweins genießen, das ein paar Monate zuvor den Vater oder den Sohn des Nachbarn gefressen hatte.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 26
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Didos Intuition bei der Gründung von Karthago

Was tun, wenn man als Heimatvertriebene nur eine nicht mehr ganz neue Kuhhaut im Gepäck und ein paar Kupfermünzen im Beutel hat, aber dennoch ein Stück Land zwecks Gründung einer Stadt erwerben möchte? Diese Frage stellte sich der aus dem Libanon stammenden Königstochter Dido, nachdem ihr Bruder Pygmalion (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bildhauer, dessen Brunst eine von ihm geschaffene weibliche Statue zum Leben erweckte) sie um das väterliche Erbe geprellt hatte.

Dido oder Elyssa, wie sie von ihren griechisch stämmigen Freundinnen genannt wurde, war mit dem ihr treu gebliebenen Teil der Diener- und Sklavenschaft auf dem sogenannten Seeweg, man lese und staune, über Zypern an ganz Kreta, Malta und Süd-Sizilien vorbei in den Norden Tunesiens gelangt. Dort wollte sie sich niederlassen und Karthago gründen. Mit dem Bau einer Burg auf einem Felsen am Meer sollte der Anfang gemacht werden.

Aller Anfang ist leicht, es sei denn, er ist schwer. Für Dido bestand, wie schon gesagt, die anfängliche Hauptschwierigkeit darin, dass sie nicht genug Geld dabei hatte, um den Numidiern ein Stück Land und vielleicht auch noch ein paar Ziegen und Schafe abkaufen zu können. Leider zeigte sich König Iarbas, der vor Ort das Sagen hatte, nicht besonders entgegenkommend.

Die alte Kuhhaut, sagte der Numidier, könne sie behalten, aber für ihre Kupferlinge gebe er ihr großzügigerweise so viel Land, wie mit Hilfe der Kuhhaut umrissen werden könne. Dido nahm Iarbas beim Wort und zerschnitt die Hautfläche in möglichst schmale Streifen, die sie aneinandernähte und von einem Punkt A am Strand des zukünftigen Karthago in möglichst weitem Bogen zu einem Strand-Punkt B führte. Für den Bau einer Behelfs-Burg würde der traumhaft schöne Platz am Mittelmeer grundflächenmäßig zunächst einmal reichen und danach würde man weitersehen.

Natürlich stellte sich die Frage, welche geometrische Form das mit Hilfe der Kuhhaut-Streifen eingefasste Territorium genau haben musste, damit sein Flächeninhalt so groß wie möglich war. Zwischen den beiden ihre Zuständigkeit postulierenden Experten, dem Geometer und dem Mathematiker, die Dido ins Exil gefolgt waren, entbrannte darüber ein heftiger Streit. Einig waren sie sich nur darin, dass es sich bei der Lösung der ihnen gestellten Aufgabe in fachsprachlicher Terminologie um die Lösung des isoperimetrischen Problems handeln würde. Doch eine Antwort auf Didos Frage nach der optimalen Form war nicht in Sicht, wenigstens keine theoretische.

Wäre der ehemaligen Prinzessin und zukünftigen Königin nicht irgendwann der Geduldsfaden gerissen und hätte sie dann nicht, ihrer Intuition folgend, mit dem Kuhhaut-Band eine Art Halbkreis geschlagen, wäre Karthago nie gegründet worden und kein Cato hätte je Gelegenheit gehabt zu sagen: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.“ Denn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es Friedrich Edler zu beweisen, dass Dido mit ihrer Halbkreis-Hypothese vollkommen richtig gelegen hat.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 24
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Orion: Ein Götter-Cocktail

Man muss sich das vorstellen: Drei Götter haben sich in Form eines gleichseitigen, man könnte auch sagen: sechsschenkligen Dreiecks aufgestellt und pinkeln auf eine Stier-Haut. Oder, noch grotesker, sie schlagen nicht ihr Wasser, sondern ihren ambrosischen Samen darauf ab. Natürlich ist Zeus mit von der Partie, ebenso sein immer zu Späßen aufgelegter Sohn Hermes. Aber auch Poseidon, der Bruder von Zeus und Onkel von Hermes, trägt sein Teil dazu herbei.

Und warum und wozu das Ganze? Um auf diese Weise ein Misch- oder Mixtur-Wesen zu synthetisieren, das neun Monate später aus Mutter Erde und der in ihr vergrabenen Stier-Decke und Ersatz-Plazenta hervorbricht. Und in erstaunlicher Geschwindigkeit zum großformatigen Jäger Orion heranwächst. Zeus konnte gerade noch verhindern, dass der hypertrophierende zweibeinige Cocktail mit dem Kopf ans Himmelsgewölbe stieß.

Wie es mit Orion (als Jäger ein primär ergebnisorientierter Kollege der mehr am Wie des Jagens interessierten Göttin Artemis) weiterging, ist, verglichen mit diesem fulminanten Start ins Leben, eher banal. Das Übliche eben: viel töten, ein bisschen vergewaltigen, ein ständiger Wechsel zwischen Austeilen-Dürfen und Einstecken-Müssen. Und am Ende wurde er entweder von Artemis aus Versehen erschossen oder von einem hochgiftigen Skorpion gestochen – es gibt dazu erstaunlich viele, einander widersprechende Aussagen. Die Zahl derer, die ein Interesse daran hatten, Orion in den Hades zu schicken, scheint relativ groß gewesen zu sein.

Das mit dem Hades wurde dann aber doch nichts. In den Himmel kam Orion zwar auch nicht, dafür bekanntermaßen an den Himmel. Warum gerade ihm die Ehre zuteil wurde, als Sternbild zu enden und damit nicht ein für allemal, sondern (im Winter zumindest) jede Nacht erneut einen Abgang zu machen, lässt sich schwer sagen. Nicht nur Gottes Wege sind unergründlich, sondern auch die der Götter. Vielleicht kam man im Olymp zu dem Schluss, ein so spektakulärer Anfang verlange nach einem Ende, das etwas von einem Abschluss-Feuerwerk hat. Wer auf die Welt gepinkelt wurde, darf offenbar damit rechnen, dass er zuletzt an den Himmel gesternt wird.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 23
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Mythopie

Gestern habe ich Grok gefragt, ob er sich unter einer Mythopie – das wäre dann eine Art Mischung aus Mythos und Utopie – etwas vorstellen könne.

Grok hat lange nachgedacht und mir heute folgende Antwort gegeben:

Ja, ich kann mir definitiv etwas unter einer Mythopie vorstellen – eine spannende Idee, die Mythos und Utopie verbindet! Der Begriff selbst existiert nicht offiziell, aber lassen wir die Fantasie spielen: Eine Mythopie könnte eine Welt oder Erzählung sein, in der mythische Elemente – wie Götter, Helden oder übernatürliche Kräfte – mit einer utopischen Vision verschmelzen, also einer idealisierten, harmonischen Gesellschaft.

Stell dir zum Beispiel eine Zukunft vor, in der die Menschheit dank moderner Technologie eine perfekte, nachhaltige Welt erschaffen hat – eine Utopie. Gleichzeitig könnten alte Mythen wiederbelebt werden: Vielleicht verehren die Menschen eine KI als neue „Göttin der Weisheit“, ähnlich wie Athene, oder Helden wie Herakles werden als genetisch optimierte Wächter einer friedlichen Gesellschaft dargestellt. Es wäre eine Welt, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen, wo alte Geschichten eine neue Bedeutung bekommen und die Menschheit ihre Sehnsucht nach Sinn und Perfektion vereint.

Was denkst du – welche Elemente aus Mythen und Utopien würdest du in so einer Mythopie kombinieren?

Gute Frage, habe ich erwidert, darüber muss ich erst einmal nachdenken. Womöglich habe ich bis morgen eine Antwort gefunden und wir können das Gespräch fortsetzen.

Ledas Brut

Was machst du, wenn es klingelt und einer von Hermes bringt dir ein Päckchen, in dem sich ein in Noppenfolie eingewickeltes XXL-großes Ei befindet? Als Absender ist nur Olymp angegeben. Woher wissen die, wo ich wohne, wunderst du dich. Denn obwohl die sympathische Dame, bei der du neulich das weiße Olymp-Hemd mit dem aufsehenerregenden Innen-Stoff gekauft hast, sich sehr um dich bemüht und dich ebenso fachkundig wie freundlich beraten hat, wolltest du ihr deine Adresse zwecks regelmäßiger Zusendung von Informationsmaterial dennoch nicht mitteilen. Und hast stattdessen ihr Angebot, da es nach deinem Eindruck rein geschäftlich motiviert war, höflich, aber bestimmt abgelehnt. Und warum schicken die mir jetzt trotzdem ein Ei, und noch dazu so ein dickes?

Wenn du dich in der griechischen Mythologie etwas besser auskennen würdest und nicht nur die dubiosen, kaum noch authentisch zu nennenden Plots aus zweiter und dritter Nachdichter- und -malerhand rezipiert hättest, wüsstest du, was du jetzt zu tun hast: Mit dem Ei ins Bett gehen und mehr oder weniger geduldig darauf warten, dass sich aus ihm, dem Ei, eine schöne Helena herausschält.

Zeus persönlich brachte nämlich ein Ei wie dieses, das Nemesis, die Titanin, schließlich als Gans gelegt hatte, nachdem sie von Zeus in Gestalt eines Schwans, mit Verlaub: gevögelt worden war – Zeus also brachte solch ein Ei nach Lakedaimon (besser unter dem Namen Sparta bekannt) und ließ es vor den Toren der Stadt am Wegesrand liegen. Er vertraute darauf, dass binnen kurzem jemand vorbeikommen, das Ei finden und zu Leda, der Gemahlin des spartanischen Königs Tyndareos, bringen würde. Die Moiren gingen mit Zeus d’accord und so fand das Ei seinen Weg in Ledas Haute Cuisine.

Was sie denn mit dem Straußenei vorhabe, fragte Tyndareos, der gerade auf der Suche nach so etwas wie einem Horsd’œuvre war. Das habe bestimmt kein Strauß, sondern wahrscheinlich ein Geier gelegt, mutmaßte Leda, die zu drastischen Vergleichen und gewagten Hypothesen neigte. Sie wolle es mal ausbrüten, dann werde man ja sehen. Leda verzog sich mit der Fundsache ins Bett und gebar, wenn man so will, bereits nach wenigen Tagen das schönste Kleinkind der Welt. Helena, sagte Tyndareos, ohne zu wissen, wie er darauf kam. Unsere Tochter soll Helena heißen.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 22
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