Als Knabe hieß er „der Schnellfüßige“, später dann „der Freigekaufte“. Noch später hätte er eigentlich „der mit den aberwitzig vielen Kindern“ heißen müssen. Priamos (von „priasthai“ für „kaufen“) war der jüngste Sohn von Laomedon, dem zweiten König von Troja. Laomedon hatte die potentiell selbstzerstörerische Angewohnheit, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und die Dienstleister dann um das vorher vereinbarte Honorar zu prellen. So weigerte sich Laomedon unter anderem, Herakles die ihm versprochenen Pferde zu überlassen. Die standen dem zufällig Vorbeigekommenen zu, weil er ein Seeungeheuer getötet hatte, dem Laomedons Tochter Hesione geopfert werden sollte. Das Seeungeheuer war von Poseidon geschickt worden, aber nur, weil Laomedon ihn für den Bau einer kompletten Stadtmauer partout nicht hatte bezahlen wollte.

Priamos hieß damals noch Podarkes, also „der Schnellfüßige“. Zur Umbenennung kam es erst einige Zeit später, als Herakles nach Erledigung seines Pflichtprogramms zurückkam, um sich in Troja um die Begleichung der noch offenen Rechnung zu kümmern. Statt mit Podarkes‘ Vater Laomedon zu verhandeln, schuf Herakles gleich vollendete Tatsachen und tötete nicht nur den König, sondern auch des Königs Kinder, ausgenommen Hesione, die er nach dem erzwungenen Verzicht auf die Pferde zu seiner Geliebten gemacht hatte. Auch Hesiones Brüder Tithonos und Podarkes kamen mit dem Schrecken davon. Dass Herakles Tithonos verschonte, war ein mythologisch notwendiger Akt der nicht ganz reinen Willkür: Tithonos wurde nämlich noch als Liebhaber von Eos, der Göttin der Morgenröte benötigt. Podarkes dagegen kam nur deswegen mit dem Schrecken und dem Leben davon, weil Hesione ihn gewissermaßen loskaufte. „Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nun wirklich nicht an“, sagte Herakles lachend, als Hesione ihren Gürtel löste und ihn Herakles als Lösegeld für den Lieblingsbruder anbot.

Dass Podarkes oder, wie er von nun an hieß, Priamos von Herakles nicht getötet worden war, blieb für die demographische Entwicklung von Troja nicht ohne Folgen. Von seiner Gattin Hekabe und anderen Frauen hatte Priamos fünfzig Söhne und zwölf Töchter, darunter Paris, der durch die Entführung der schönen Helena Troja den Untergang brachte und Hektor, der diesen Untergang heldenhaft, aber letztlich ohne Erfolg, zu verhindern suchte. Die meisten der zweiundsechzig Kinder des Priamos kamen bei der Eroberung der Stadt durch die Griechen ums Leben. Wie gewonnen, so zerronnen, wie geboren, so verloren.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 43
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