War es für eine Abtreibung schon zu spät gewesen? Nach dem Dafürhalten nicht weniger Freunde der Menschheit als Idee sollte es für einen Schwangerschaftsabbruch nie zu spät und selten zu früh sein – letzteres etwa dann, wenn die Zeugung noch gar nicht stattgefunden hat. Die Geschichte von der Nicht-Abtreibung des Paris scheint den Frist-Maximalisten recht zu geben. Denn wäre der Prinz von Troja gar nicht erst zur Welt gekommen, hätte es keinen Trojanischen Krieg gegeben. Oder doch nicht mit dem mythologisch verbürgten Personal an dem von Homer angegebenen Ort. Der Trojanische Krieg hätte vielleicht in Byzantion stattgefunden und nicht zehn, sondern nur fünf Jahre gedauert. Und womöglich wäre die Zahl der Opfer und Kriegsversehrten um die Hälfte niedriger, vielleicht aber auch doppelt so hoch gewesen.
Als Hekuba oder das Hekable, wie sie von ihren ins Schwäbische ausgewanderten Verwandten liebevoll genannt wurde, wieder einmal schwanger war, hatte sie einen Traum, in dem sie, die Königin von Troja, ein brennendes Stück Holz gebar, aus dem schlangenförmige Flammen züngelten. Zeus weiß warum – ihr medial begabter Stiefsohn Aisakos riet der aktuellen Frau seines Vaters Priamos nicht zur Abtreibung, sondern zur Tötung des Kindes gleich nach der Geburt. Sonst werde sein Halbbruder mitursächlich verantwortlich sein für die Zerstörung Trojas.
Hekuba übergab das Neugeborene „schweren Herzens“, wie es im nicht-öffentlichen Teil der Akten des Stadtarchivs hieß, einem Sklaven ihres Vertrauens, der es im Wald entsorgen sollte. Denn an Nachwuchs herrschte kein Mangel – der noch namenlose Gefährder hatte oder würde noch haben um die fünfzig Geschwister und Halbgeschwister. Wahrscheinlich hatte die Wöchnerin sich nicht klar genug ausgedrückt, denn der Säugling landete nicht tot oder noch lebendig im Gebüsch, sondern in den Händen des Waidmanns Agelaos beziehungsweise an der Brust von dessen Gemahlin, einer Bärin von einer Frau. Sie war es auch, die Paris den Namen Paris gab.
Der Rest ist – nicht nur, aber auch – Ilias. Der Milch-Sohn der Bärin wuchs heran und fand nach einer ersten, nicht wirklich standesgemäßen Ehe mit der Nymphe Oinone und nach einem Um-einen-Stier-Kampf in den Schoß seiner ursprünglichen königlichen Herkunftsfamilie zurück; kürte Aphrodite zur schönsten Göttin des Olymp; begegnete der mit Menelaos verheirateten Helena, die mit ihm nach Troja durchbrannte; verteidigte die Stadt zehn Jahre lang recht und schlecht – einige sagten: ein wenig lustlos – gegen Helenas Verfolger und erklärte Rückeroberer; wurde von einem vergifteten Pfeil getroffen und starb wegen unterlassener Hilfeleistung durch seine erste Frau Oinone.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 37
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