Bevor Zeus Okyroë wegen unerlaubter Wahrsagerei in eine Stute – eigentlich müsste man sagen: Voll-Stute – verwandelte und sie den Namen Hippo erhielt, war sie eine Art Kentaurin, also eine hals- und kopflose Stute mit dem Oberkörper einer Frau. Eine Kentaurin war Okyroë alias Hippo allerdings nur der Gestalt nach, weil diese Einschränkung auch für ihren Vater Chiron oder Cheiron galt, der seine genealogisch bedingte morphologische Besonderheit an seine Tochter weitergegeben hatte. Als veritabler und nicht nur Pseudo-Kentaur hätte Cheiron seinen Stammbaum auf den Wolken-Stecher Ixion zurückführen können müssen, dem es in angetrunkenem Zustand gelungen war, eine Nephele (das heißt „Wolke“), die er für Hera hielt, zu schwängern. Dabei entstand Kentauros und aus Kentauros‘ Verbindung mit diversen Stuten gingen dann die eigentlichen oder Original-Kentauren hervor.

Die Hand (altgriechisch „cheiro“) der Hände aber hatte mit alledem nichts zu tun. Denn Cheiron war ein Sohn des Kronos, das heißt ein Enkel von Gaia und Uranos (also gewissermaßen ein Urenkel des Chaos) und als solcher ein Halbbruder von Zeus. Die Kentauromorphie verdankte Cheiron dem Umstand, dass sein Erzeuger Kronos sich weder von seiner Gemahlin Rhea noch von sonst jemandem beim Fremdgehen erwischen lassen wollte und Cheirons Mutter Philyra daher in Pferdegestalt erst den Hof und dann den Hengst machte. Neun, zehn oder elf Monate später mit dem Resultat des im wörtlichen Sinn abartigen Seitensprungs konfrontiert, wollte Philyra fortan lieber am Brunnen vor dem Tore eine Linde (Tilia) als die Mutter dieser – in ihren Augen – Missgeburt sein.

Wie sich später herausstellte, war Philyras Entscheidung für die Metamorphose – also für eine Art postnatal-symbolische Abtreibung – vermutlich voreilig gewesen. Denn Cheiron erwies sich als äußerst patenter Mann, den sie gelegentlich Pferd nannten, und auf den so ziemlich jede andere Mutter stolz gewesen wäre. Spätestens beim Lesen des Wikipedia-Eintrags ihres Sohns hätte Philyra ihre Tiliafizierung bedauert: „Er ist ein Freund der Götter, Erzieher der Heroen Jason, Aktaion, Aristaios, Achilleus, Kephalos, Meilanion, Nestor, Amphiaraos, Peleus, Telamon, Meleagros, Theseus, Hippolytos, Palamedes, Menestheus, Odysseus, Diomedes, Kastor, Polydeukes, Machaon, Podaleirios, Antilochos und Aineias, besitzt Kenntnisse in der Arzneikunde, galt gelegentlich als Begründer der Chirurgie und übernahm die Ausbildung des Asklepios zum Arzt.“

Der im unpräzisen Sinn von Vollständigkeit Vollständigkeit halber soll nicht ungesagt bleiben, dass Cheirons Tod im unpräzisen Sinn von tragisch tragisch, nämlich ein Kollateralschaden war. Ein vergifteter Pfeil des Herakles traf ihn am Knie, nachdem der kraftstrotzende Held sich beim Einfangen des Erymanthischen Ebers mit irgendwelchen Original-Kentauren angelegt hatte. Das ist noch nicht die ganze Geschichte, muss für hier und jetzt aber als leidvolles Ende vom Lied genügen. Mythograph sein heißt, vom Eckchen aufs Steckchen und vom Hölzchen aufs Stölzchen zu kommen und eigentlich kein Ende finden zu können.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 35
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