Beim Gang durch die, wie man meinen könnte, einem Bauplan von Maurits Cornelis Escher folgenden Räume des Mythologischen begegnen einem immer wieder Akteure, über die man allein schon ihres Namens wegen eine, also ihre Geschichte erzählen möchte. Amphiaraos ist so ein Fall oder, beinahe verheißungsvoller noch: Parthenopaios. Beide Namensträger gehörten zu den Sieben gegen Theben. Und für beide nahm das von Polyneikes, einem der unseligen, da inzestuös gezeugten Söhne des Ödipus, angezettelte thebanische Abenteuer kein gutes Ende.

Weil sie ihn nach seiner Selbst-Blendung und seiner anschließend verfügten Verbannung aus Theben schmählich im Stich gelassen hatten, verfluchte Ödipus seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes. Durch das Schwert des jeweils anderen sollten sie nach Ödipus‘ rachsüchtigem Willen zu Tode kommen. Der Versuch des Polyneikes, unter Mithilfe der sechs anderen altgriechischen Samurai die Herrschaft in Theben an sich zu reißen, schuf also nur die äußeren Rahmenbedingungen für die Möglichkeit der Realisierung dieser unväterlichen Option. Mitgegangen, mitgehangen. Warum Parthenopaios als einer von sieben Verlierern mit in den Krieg gegen Theben gezogen ist? Eine noch präembryonal zu verortende Traumatisierung wäre womöglich ein triftiger Grund, warum einer ein dubioses Angebot wie das folgende nicht ablehnen konnte: Komm mit, sagte Polyneikes zu Parthenopaios, etwas besseres als das, was wir gleich zu Beginn unseres Daseins erleben mussten, werden wir überall finden.

Die Zeugungs-Schande des Polyneikes ist hinreichend erörtert worden, ohne sie wäre die Psychoanalyse heute nicht das, was sie ist. Worin aber bestand die Schmach bei der Entstehung des Parthenopaios? Auch in seinem Fall war eine kategorische rote Linie unbeachtet geblieben – nicht die sexuelle Kontakte ausschließende Grenze zwischen Eltern und Kindern, sondern die Scheidelinie zwischen den Arten. Wenn ein Löwe eine Löwin begattet, sollte dabei kein Mensch heraus kommen, was bei Parthenopaios aber geschehen ist.

Mit Hilfe der Aphrodite war es Parthenopaios‘ zu diesem Zeitpunkt noch nicht vierbeinigem Vater Meleagros gelungen, schneller zu laufen als seine zukünftige Gemahlin Atalante, zu deren Gewohnheiten es gehörte, Heiratskandidaten erst beim Wettrennen zu schlagen und anschließend zu töten. Als Atalante sich gleich nach ihrer Niederlage ein wenig überstürzt im Tempel der Aphrodite von ihrem Bezwinger übermannen ließ, bestrafte die eben noch wohlwollende Aphrodite diesen Verstoß gegen ihre Hausordnung mit Verwandlung in eine andere Spezies. Da sie wie alle antiken Griechinnen und Griechen noch wusste, dass ein Löwe nur mit einer Leopardin, nicht aber mit einer Löwin kann, fiel ihr trotz der damals noch viel größeren Artenvielfalt die Wahl nicht schwer – bestand Aphroditens perfide Absicht doch darin, das Paar, dessen Paarung sie eben erst ermöglicht hatte, im nächsten Moment erotisch-sexuell für immer getrennte Wege gehen zu lassen und dabei wie zum Hohn den äußeren Schein der Zusammengehörigkeit zu wahren.

Der spätere Mitstreiter des Polyneikes wurde gleichwohl gezeugt und kam zur Welt. Psychisch wie physisch war er ein Mensch. Psychisch, indem er traumatisiert, physisch, indem er einerseits nicht irgendeine andere Spezies, andererseits aber auch nicht nichts war. Wofür es aus meiner Sicht nur eine Erklärung gibt: Parthenopaios‘ Vater war noch früh genug und Aphrodite zu spät gekommen. Im Klartext: Die perfide Verwandlung in ein nach antikem Wissen fortzeugungsunfähiges Löwenpärchen fand erst postkoital statt, wobei die Vorgänge zwischen Besamung und Geburt aus Gründen der mythologischen Distanz und der fehlenden einschlägigen Forschungsergebnisse im Dunkeln bleiben müssen.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 33
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