Man muss kein Holzbildhauer oder Antiquitätenhändler sein, um sich für eine Geschichte zu interessieren, in der eine hölzerne Statue vom Himmel fällt oder schon gefallen ist. Solches soll der Fall gewesen sein auf der Krim, damals noch Tauris genannt. Der literarhistorisch reale Kontext des mythisch-fiktiven Ereignisses ist die im fünften vorchristlichen Jahrhundert entstandene Tragödie „Iphigenie bei den Taurern“ des zu seiner Zeit mit Literaturpreisen überhäuften Dichters Euripides.
Rache-Morde und zunächst kein Ende. Agamemnon opfert aus, wenn man so will, meteorologischen Gründen in Aulis seine Tochter Iphigenie, weshalb ihn seine Gattin Klytaimnestra, als er zehn Jahre später aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt, mit dem Beil erschlägt. Klytaimnestra wird dafür ihrerseits von ihrem Sohn Orestes mit dem selben Schwert getötet, mit dem Orest kurz zuvor Klytaimnestras Liebhaber Aigisthos den Kopf abgeschlagen hat. Dabei hatte Orest seinen Vater Agamemnon nie wirklich kennengelernt. Als er geboren wurde, kämpfte sein Erzeuger schon seit ein paar Wochen oder Monaten in Kleinasien, um die Herausgabe seiner Schwägerin Helena zu erzwingen. Und in den wenigen Stunden, die zwischen der Heimkehr Agamemnons und seiner Ermordung durch Klytaimnestra lagen, wird für den Aufbau einer verbindlichen Vater-Sohn-Beziehung kaum genügend Zeit gewesen sein.
Tu‘ es nicht, hatte Pylades seinen Freund Orest beschworen. Du musst es tun und du wirst es tun, hatte dagegen das Orakel in Delphi apodiktisch verkündet. Was blieb Orestes da anderes übrig, als zur Tat zu schreiten und zum Schwert zu greifen, zumal das Orakel nur das bestätigt hatte, was ihm auch von seiner Schwester Elektra mehr be- als empfohlen worden war. Aber kaum hatte Orest seine Mutter ins Jenseits befördert, fuhren von dort her kommend die Erinnyen in ihn ein und der Mutter-Mörder wurde die Rache-Furien fürs erste nicht wieder los. Erst als er zusammen mit Pylades die eingangs erwähnte Holzfigur, übrigens eine Darstellung der Göttin Artemis, nach Athen ent- und überführt hatte, entspannte sich die Lage nachhaltig.
Um alle Aspekte dieser komplexen Tragödie, die Züge einer schaurigen Rache-Komödie nicht ganz verhehlen kann, gebührend zu würdigen, müsste natürlich zumindest noch erwähnt werden, dass in Tauris die tot geglaubte Iphigenie ironischerweise als opferwütige Artemis-Priesterin tätig war. Die Göttin hatte vor Jahr und Tag auf Iphigeniens Schlachtung im letzten Moment verzichtet und sie von Aulis nach Tauris teleportiert. Hätte der Rache-Reigen im Sinne des Vendetta-Gedankens seinen Sinn behalten sollen, hätte Orestes dort auf jeden und jedes treffen dürfen, nur nicht auf Iphigenie. In Tauris schloss sich ein Kreis, der sich nicht hätte schließen dürfen, falls die Logik der Rache nicht allen Orakel-Sprüchen zum Trotz einer peinlichen Befragung durch die unberechenbare Wirklichkeit hätte unterzogen werden sollen – hätte, hätte, Totschlag-Kette. Aber das nur nebenbei.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 32
Weitere Leseproben hier