Sie hatten sich in Aulis versammelt und nun warteten sie auf Wind. Denn ohne Wind keine Überfahrt nach Kleinasien; um Helena zu befreien, wie es offiziell hieß. Doch kommt man der Wahrheit möglicherweise ein gutes Stück näher, wenn man sagt: um Menelaos‘ davongelaufene Frau zurückzuholen, denn so ganz unfreiwillig war die schönste Frau der Mythen-Welt ihrem Prinzen, dem als Entführer getarnten Trojaner Paris, wohl nicht in die Fremde gefolgt.
Wer sich mit Google Street View durch Aulis und Umgebung klickt, bekommt eine Ahnung davon, wie das gewesen sein könnte. Die hochgerüsteten und zunächst auch noch mittelhoch motivierten Kämpfer waren gekommen, um den düpierten Menelaos zu rehabilitieren, und nicht um heldenhaft der Hitze und der Langeweile zu trotzen. Noch drei, vier Tage Flaute und die ersten wären wieder nach Hause gefahren. Allen voran wahrscheinlich Odysseus, der sich auf das trojanische Abenteuer ohnehin nur widerstrebend eingelassen hatte. Als seine zukünftigen Kampfgefährten kamen, um ihn abzuholen, wollte er sie glauben machen, er habe nicht mehr alle Amphoren in der Speisekammer und war mit Ochs und Esel vor dem Pflug, dabei Salzkörner säend, durch den Sand gestolpert. Doch wurde der dann doch noch nicht ganz so Listenreiche von Palamedes umstandslos als wortbrüchiger Drückeberger enttarnt und, wenn schon nicht mit gezogenem Schwert, so doch mit geschwungener Ethos-Keule zum Kriegsdienst überredet.
Was also tun? Agamemnon, bei dem die oberste Heeres- und Marineleitung lag, sah nur noch einen Ausweg – es musste jetzt schon Blut fließen, und zwar Menschenblut. Die in Aulis verehrte Göttin war Artemis; ihr wollte Agamemnon, da zeigte er sich großzügig, seine Tochter Iphigenie im Tausch gegen eine frische Brise anbieten. In der vom Militär-Seher Kalchas verbreiteten Version des Deals hieß es, Agamemnon habe beim Jagen mehr oder weniger aus Versehen einen Hirsch der Artemis erwischt und die habe dann in Absprache mit Poseidon ein Segelverbot erlassen, daher die Windstille. Seefahrt werde es erst wieder geben, wenn Agamemnon ihr seine Tochter Iphigenie als Opfer darbringe. Was bleibe Agamemnon, so Kalchas, also anderes übrig, als der Göttin um des lieben Krieges willen den Gefallen zu tun. Punkt, kein Fragezeichen.
Das Menschenopfer verfehlte seine vermeintliche Wirkung nicht. Kaum war das Mädchen tot, erhob sich ein leichter Westwind. Einige sagten später hinter vorgehaltener Hand, der habe schon zu wehen begonnen, als der Priester noch das Messer wetzte, das er dann an Iphigeniens Kehle setzte.
Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 31
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