Was tun, wenn man als Heimatvertriebene nur eine nicht mehr ganz neue Kuhhaut im Gepäck und ein paar Kupfermünzen im Beutel hat, aber dennoch ein Stück Land zwecks Gründung einer Stadt erwerben möchte? Diese Frage stellte sich der aus dem Libanon stammenden Königstochter Dido, nachdem ihr Bruder Pygmalion (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bildhauer, dessen Brunst eine von ihm geschaffene weibliche Statue zum Leben erweckte) sie um das väterliche Erbe geprellt hatte.

Dido oder Elyssa, wie sie von ihren griechisch stämmigen Freundinnen genannt wurde, war mit dem ihr treu gebliebenen Teil der Diener- und Sklavenschaft auf dem sogenannten Seeweg, man lese und staune, über Zypern an ganz Kreta, Malta und Süd-Sizilien vorbei in den Norden Tunesiens gelangt. Dort wollte sie sich niederlassen und Karthago gründen. Mit dem Bau einer Burg auf einem Felsen am Meer sollte der Anfang gemacht werden.

Aller Anfang ist leicht, es sei denn, er ist schwer. Für Dido bestand, wie schon gesagt, die anfängliche Hauptschwierigkeit darin, dass sie nicht genug Geld dabei hatte, um den Numidiern ein Stück Land und vielleicht auch noch ein paar Ziegen und Schafe abkaufen zu können. Leider zeigte sich König Iarbas, der vor Ort das Sagen hatte, nicht besonders entgegenkommend.

Die alte Kuhhaut, sagte der Numidier, könne sie behalten, aber für ihre Kupferlinge gebe er ihr großzügigerweise so viel Land, wie mit Hilfe der Kuhhaut umrissen werden könne. Dido nahm Iarbas beim Wort und zerschnitt die Hautfläche in möglichst schmale Streifen, die sie aneinandernähte und von einem Punkt A am Strand des zukünftigen Karthago in möglichst weitem Bogen zu einem Strand-Punkt B führte. Für den Bau einer Behelfs-Burg würde der traumhaft schöne Platz am Mittelmeer grundflächenmäßig zunächst einmal reichen und danach würde man weitersehen.

Natürlich stellte sich die Frage, welche geometrische Form das mit Hilfe der Kuhhaut-Streifen eingefasste Territorium genau haben musste, damit sein Flächeninhalt so groß wie möglich war. Zwischen den beiden ihre Zuständigkeit postulierenden Experten, dem Geometer und dem Mathematiker, die Dido ins Exil gefolgt waren, entbrannte darüber ein heftiger Streit. Einig waren sie sich nur darin, dass es sich bei der Lösung der ihnen gestellten Aufgabe in fachsprachlicher Terminologie um die Lösung des isoperimetrischen Problems handeln würde. Doch eine Antwort auf Didos Frage nach der optimalen Form war nicht in Sicht, wenigstens keine theoretische.

Wäre der ehemaligen Prinzessin und zukünftigen Königin nicht irgendwann der Geduldsfaden gerissen und hätte sie dann nicht, ihrer Intuition folgend, mit dem Kuhhaut-Band eine Art Halbkreis geschlagen, wäre Karthago nie gegründet worden und kein Cato hätte je Gelegenheit gehabt zu sagen: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.“ Denn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es Friedrich Edler zu beweisen, dass Dido mit ihrer Halbkreis-Hypothese vollkommen richtig gelegen hat.

Aus: Lothar Rumold: „Mythenlese – Ein mythographisches Sammelsurium“, Norderstedt (BoD) 2021, S. 24
Weitere Leseproben hier

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner