Soll ich es „Ironie des Schicksals“ nennen, dass zu Beginn meines Geburtsjahrs (es muss etwa einen Monat nach meiner Zeugung gewesen sein) die erste TV-Folge von „Was bin ich? Das heitere Beruferaten“ mit Robert Lembke, ausgestrahlt wurde? Mein mehr oder weniger heiteres Berufe- und Berufungs-Erraten hält bis heute an. Last turn of the screw: Zurück zum Lesen-und-Schreiben-Lernen am Anfang meiner persönlichen Bildungskarrierenmisere. Dazwischen liegen ein ebenso intensives wie extensives, zuletzt aber dann doch nicht abgeschlossenes Philologie- und Linguistikstudium sowie rund 35 Jahre beruflicher Praxis als Holzbildhauer und Meister im Holzbildhauerhandwerk.

Mein Vater wusste schon früh, was er wollte

Für den, dessen Oberammergauer Jahre mir als Fundgrube und Leitfaden für meinen geplanten Roman dienen werden, für meinen Vater also, war früh schon klar, dass als Beruf nur der des Holzbildhauers infrage kam. „I define commitment as the elimination of alternatives“, doziert Alex Hormozi, dessen auf den Punkt gebrachten Ratschläge ich in diesem Blog immer wieder gerne zitiere. COMMITMENT, also die rückhalt-, um nicht zu sagen: rücksichtslose Bindung an eine Aufgabe, an ein Unternehmen im weiteren Sinn: ein emotional hoch schwingendes Wort, das die Beziehung meines Vaters zu seinem Beruf adäquater als jeder deutsche Begriff sprachlich zum Ausdruck bringt.

Seine Bindung an die Holzbildhauerei war älter, stärker und verpflichtender als seine Bindung an Frau und Kind. Kaum war er Familienvater geworden, machte er sich, zunächst noch in Begleitung seines älteren Bruders, auf die Pilgerreise ins damalige Glaubenszentrum der deutschen Holzschnitzer und des an Schnitzereien interessierten internationalen Publikums. Es war eine Grand Tour, von der er erst sechs Jahre nach seinem Aufbruch im Oktober 1956 wieder zurückkehren sollte.

Das Jahr 1955: Was mag ihm aufgefallen, wofür mag er sich interessiert haben?

Was mag meinen Vater (und demzufolge auch N. N., meinen noch Namenlosen Romanhelden) im Jahr 1955 außer seiner übereilten Hochzeit und meiner (ihm eigentlich nicht in den Kram passenden) Geburt noch interessiert haben?

Kaum erreicht haben wird ihn die Nachricht von der Eröffnung der 1. Documenta in Kassel – und hat sie ihn doch erreicht, so hat ihn das wahrscheinlich nicht besonders interessiert. Wesentlich näher als der neben Anderen in Kassel gezeigte Wilhelm Lehmbruck standen ihm die Meister des deutschen Barock und Rokoko (insbesondere Joseph Anton Feuchtmayer) oder die Künstler der italienischen Renaissance, allen voran Donatello. Ansonsten galt sein kulturelles Interesse eher zuerst als zuletzt dem deutschen Unterhaltungsfilm. „Ich denke oft an Piroschka„, der (mit Liselotte Pulver in der Titelrolle) Ende 1955 in die Kinos kam, hat er sich wohl nicht entgehen lassen.

Die Krim 1945 und 2025 – ein Teufelskreis?

Gleichfalls nicht entgangen sein wird ihm, dass am 7. Oktober 1955 die ersten 600 Spätheimkehrer der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion in Westdeutschland eintrafen. Im Oktober, aber auch später nicht mit dabei war sein Schwiegervater, der seit dessen Gefangennahme auf der Krim 1945 als vermisst galt.

Krim, Kriegsgefangenschaft, Kerzen in Fenstern für vermisste deutsche Soldaten – es ist, als würde sich achtzig Jahre später ein Teufelskreis schließen oder zu schließen drohen.

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